■ Vor 40 Jahren hielt Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU seine berühmte Geheimrede über Stalins Verbrechen. Ihn belastende Dokumente waren vernichtet. Neues Material beweist: So genau nahm er es mit der Wahrheit nicht: "Wir
Im Herbst 1955 überprüfen die Organe der Staatssicherheit die Fälle von Parteimitgliedern, die zwischen 1937 und 1939 verurteilt worden waren. Anastas Mikojan* erinnert sich: „Nach dem Tod Stalins erreichten mich Gesuche von Angehörigen Verurteilter, diese Angelegenheiten noch einmal zu überprüfen. Ich schickte die Gesuche Rudenko (Generalstaatsanwalt der UdSSR). Nach der Überprüfung wurden alle vollständig rehabilitiert. Ich war erstaunt: So etwas war noch nie vorgekommen.“
Die ersten offenen Mitteilungen über die Grausamkeiten, die in den Organen der Staatssicherheit stattgefunden hatten, tauchen noch im Frühjahr 1953 auf. Der Initiator ist Lawrenti Berija. Nach seiner Verhaftung kommen Informationen darüber in Umlauf, daß auch er für die politischen Repressionen der 30er und 40er Jahre direkt verantwortlich ist. Aber erst Mitte des Jahres 1955 werden die Angelegenheiten untersucht, die ersten Ergebnisse liegen im Herbst 1955 vor. Von diesem Zeitpunkt an ändert sich die Position von Nikita Chruschtschow. Mikojan: „Ich ging zu Chruschtschow und sprach mit ihm unter vier Augen. Wir müssen irgendwann, wenn nicht der ganzen Partei, so doch zumindest den Delegierten des ersten Parteitages nach Stalins Tod mitteilen, was gewesen ist. Wenn wir das nicht auf diesem Parteitag tun, wird irgend jemand das irgendwann erledigen und nicht erst den nächsten Parteitag abwarten. Dann werden alle einen berechtigten Grund haben, um uns für die Verbrechen verantwortlich zu machen. Chruschtschow hörte aufmerksam zu...“
Die Möglichkeit eines solchen Eingeständnisses erschreckt die Mitglieder des ZK-Präsidiums. Sie wissen nur zu gut, welche Verantwortung sie, mit Stalin, für die verübten Verbrechen tragen. Warum entschied sich Chruschtschow für diesen Schritt? Einer der Gründe: Er war zu diesem Zeitpunkt überzeugt, daß über seine persönliche Beteiligung an den Verbrechen der Stalinzeit kein Wort fallen würde. Wie Dmitri Wolkogonow bezeugte, waren zu dieser Zeit auf Anweisung Chruschtschows sowohl viele Unterlagen Berijas als auch Dokumente von Stalin und anderen führenden Persönlichkeiten der Partei vernichtet worden. Insgesamt wurden elf Säcke mit Unterlagen beiseite geschafft.
Je näher die Eröffnung des Parteitages heranrückt, desto schärfer werden die Diskussionen im Präsidium des ZK geführt. Die offizielle Version der Parteipropaganda zur Zeit Chruschtschows ist folgende: Im Herbst 1955 macht Chruschtschow den Vorschlag, die Delegierten des bevorstehenden Parteitages von den Verbrechen Stalins zu unterrichten. Molotow*, Malenkow* und Kaganowitsch stellen sich diesem Vorschlag entgegen. Die eilig vorbereitete Rede über den Personenkult soll auf einer geschlossenen Sitzung gehalten werden. Chruschtschow schlägt vor, daß derjenige auf dem Parteitag auftreten sollte, der die Rede vorbereitet hat – Pjotr Pospelow. Die Mitglieder des Präsidiums setzen jedoch ihre Forderung durch, daß Chruschtschow die Rede selbst halten soll.
In seinen Erinnerungen stellt sich Chruschtschow als einziges Mitglied des Präsidiums dar, das sich für die Rede über den Personenkult auf dem Parteitag einsetzte und seine Kollegen dazu aufforderte, ihre Schuld einzugestehen. Das Präsidium teilte er in drei Gruppen, in Abhängigkeit von der Schuld jedes einzelnen: Er selbst, Chruschtschow, Bulganin, Perwuchin und Saburow wußten nichts über den Terror in den 30er Jahren. Die andere Gruppe, Molotow, Woroschilow, wußten alles. Mikojan und Kaganowitsch waren im großen und ganzen informiert, kannten aber keine Details. Malenkow war zwar nicht der Initiator der Massenrepressionen, aber ein willfähriger Erfüllungsgehilfe. Das ist eine zweifelhafte Klassifizierung. Denn die Dokumente beweisen, daß alles viel komplizierter war. Um jede persönliche Verantwortung von sich abzuwälzen, rechnete sich Chruschtschow denjenigen Mitgliedern des Präsidiums zu, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Führung der Partei und des Landes aufgestiegen waren. Indes gehörte er dieser Gruppe bereits seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre an. In dieser Zeit „sorgte er in Moskau und der Ukraine für Ordnung“.
Am 5. November 1955 tagt das Präsidium, um über Feierlichkeiten anläßlich des Jubiläums der Oktoberrevolution zu beraten. Außerdem wird die Frage von Stalins Geburtstag diskutiert. In den vergangenen Jahren hatte an diesem Tag immer eine feierliche Sitzung stattgefunden. Jetzt wird beschlossen, keine Sitzung abzuhalten. Besonders entschieden wendet sich Lasar Kaganowitsch gegen eine Feierstunde. Kliment Woroschilow weist darauf hin, daß das Volk eine solche Entscheidung nicht gut aufnehmen werde.
Am 31. Dezember diskutiert das Präsidium die Repressionen der 30er Jahre. Dabei geht es vor allem um die näheren Umstände der Ermordung Kirows. Die Mitglieder einigen sich darauf, daß dabei die Tschekisten Hand angelegt haben. Außerdem wird beschlossen, die Fälle der ehemaligen Führer des NKWD und das Schicksal der Mitglieder und Delegierten des Zentralkomitees, die auf dem 17. Parteitag gewählt worden waren, genauer zu untersuchen. Zu diesem Zweck wird eine Kommission unter dem Vorsitz von Pjotr Pospelow eingerichtet.
Am 1. Februar 1956 wird die Frage der Repressionen im Präsidium erneut diskutiert. Mikojan, Pospelow und Serow legen konkrete Fakten darüber vor, wie Stalin direkt Maßnahmen des Massenterrors leitete und wie in Städten, Gebieten und Republiken auf seine persönliche Anordnung hin Verhaftungen erfolgten. Trotzdem vertritt Wjatscheslaw Molotow die Ansicht, im Vortrag auf dem Parteitag sei darauf hinzuweisen, daß Stalin das Werk Lenins fortgesetzt habe. Mikojan ist dagegen, und Maxim Saburow sagt: „Wenn diese Fakten stimmen, was hat das dann noch mit dem Kommunismus zu tun? Das kann man nicht entschuldigen.“ Georgi Malenkow merkt an, daß es richtig sei, die Frage nach Stalins Rolle aufzuwerfen und daß die Partei darüber informiert werden müsse. Nur Woroschilow, und Kaganowitsch unterstützen die Position von Molotow. „Stalin“, sagt Chruschtschow in seinem Schlußwort, „war dem Sozialismus ergeben, aber er bediente sich barbarischer Methoden. Er zerstörte die Partei. Er war kein Marxist. Alle hat er mit seinen Launen unterdrückt.“
Noch in den ersten Februartagen präsentiert die Kommission Pospelows dem Präsidium ihre Ergebnisse – fast 70 maschinengeschriebene Seiten. Das erste Kapitel ist mit die „Befehle des NKWD der UdSSR zur Durchführung von Massenrepressionen“ überschrieben. Die Kommission legt weitere Dokumente vor, auf deren Grundlage in der zweiten Hälfte der 30er Jahre die Massenrepressionen durchgeführt wurden. Die Schlußfolgerung der Kommission: Antisowjetische Organisationen, Blocks und Zentren entstanden auf der Grundlage von Fällen, die die Richter konstruierten, indem sie die Gefangenen folterten und quälten. Die Kommission führt aus, daß Stalin die Fälschungen, Mißhandlungen und Folterungen sowie die grausame Vernichtung der Parteiaktiven sanktioniert hat.
Am 9. Februar erstattet die Kommission dem Präsidium Bericht. Mikojan: Der Referent war Pospelow. Die Fakten waren so erschreckend, daß ihm an einigen Stellen Tränen in die Augen traten und seine Stimme zitterte. Wir alle waren erschüttert. Wir wußten zwar viel, doch bei weitem nicht das, was die Kommission berichtete. Und alles war jetzt überprüft und auf Dokumente gestützt.“
Nach dem Vortrag legt Chruschtschow seine Position dar: „Was ist das für ein Führer, der alle vernichtet hat. Wir müssen den Mut aufbringen und die Wahrheit sagen.“ Auf die Frage, wo das geschehen soll, antwortet er: auf der geschlossenen Sitzung des Parteitages.
Molotow versucht erneut die Mitglieder des Präsidiums davon zu überzeugen, daß in dem Vortrag die Formulierung vorkommen müsse, Stalin habe das Werk Lenins fortgesetzt. Die Begründung: „Die Partei hat 30 Jahre unter der Führung von Stalin existiert und gearbeitet. Sie hat die Industrialisierung des Landes durchgesetzt, den Krieg gewonnen und aus dem Land nach dessen Ende eine Großmacht gemacht. Kaganowitsch widerspricht ihm: „Die Geschichte kann man nicht verraten. Die Fakten wischt keiner weg. Die Entscheidung Chruschtschows, den Vortrag zu Gehör zu bringen, ist richtig. Wir tragen dafür die Verantwortung, doch die Umstände waren eben so, daß wir uns nicht widersetzen konnten.“
Malenkow: „Mit keinem Kampf gegen den Feind können wir erklären, daß die Kader zerschlagen wurden. Stalin hat viele Opfer gekostet.“ Aweri Apistow: „Zu sagen, daß wir das alles nicht gewußt haben, ist der Mitglieder des Politbüros unwürdig...“ Im Laufe der Diskussion kristallisieren sich zwei gegensätzliche Positionen heraus. Am Ende sprechen sich Molotow, Woroschilow, und Kaganowitsch gegen eine extra Rede über den Personenkult auf dem Parteitag aus. Die anderen Mitglieder und Kandidaten des Präsidiums unterstützen Chruschtschow.
Einen Tag vor der Eröffnung des Parteitages und nur wenige Stunden vor der Sitzung des ZK- Plenums entbrennt eine Diskussion darüber, wer das Referat über den Personenkult halten soll. Und hier wird die Unaufrichtigkeit Chruschtschows offensichtlich. Mikojan schreibt, daß er selbst vorschlug, nicht Chruschtschow, sondern der Vorsitzende der Kommission, Pospelow, solle die Rede halten. Chruschtschow war nicht einverstanden. „Alle werden denken, daß der Sekretär des ZK sich aus der Verantwortung stiehlt.“ Und so faßt das Präsidium am 13. Februar folgenden Beschluß: Dem Plenum soll der Vorschlag unterbreitet werden, daß es das Präsidium für unumgänglich hält, auf einer geschlossenen Sitzung eine Rede über den Personenkult zu halten. Zum Redner wird Chruschtschow bestimmt.
Obwohl das Präsidium allen Ergebnissen von Pospelows Kommission zustimmt, finden nicht alle Schlußfolgerungen in die Rede Eingang. Die Feststellung der Kommission, daß alle sogenannten „antisowjetischen Zentren und Blocks“ von den Untersuchungsrichtern konstruiert worden waren, hätte unweigerlich die Frage einer Überprüfung der Urteile in den öffentlichen Prozessen gegen Mitglieder der Opposition zur Folge gehabt. Dieser Standpunkt der Kommission wird ignoriert, mehr noch: Sowohl in der allgemeinen wie auch der Rede über den Personenkult wird der Kampf gegen die Opposition Stalin als besonderes Verdienst zugerechnet. Die Trotzkisten und die Bucharin- Leute werden erneut als Volksfeinde bezeichnet. Die Position Pospelows, daß der Personenkult Stalins eine Folge seiner negativen Charaktereigenschaften war, wird in die Rede aufgenommen.
Obwohl Chruschtschow in seinen Memoiren schreibt, daß die Entscheidung, die Rede über den Personenkult vorzutragen, erst in den letzten Tagen des Parteitages getroffen wurde, wurde diese Frage in Wirklichkeit schon vorher behandelt. Die Mitglieder des Präsidiums befürchteten, daß die Wahrheit über die Verbrechen des Stalin-Regimes das Abstimmungsverhalten der Delegierten beeinflussen würde. Besonders energisch tritt Woroschilow auf und warnt die Mitglieder des Präsidiums. Nach einer solchen Rede würden die Delegierten bei der Wahl zu den führenden Organen der Partei wohl kaum für die Mitglieder des Präsidiums stimmen. Und so wird folgendes entschieden: Chruschtschow soll die Rede am 25. Februar und damit erst nach den Wahlen halten. Eine Aussprache wird nicht stattfinden. Wladimir Naumow, Historiker
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