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Reiseziel Kälte am Vogelsberg

Glühwein für die Kehle, Holzscheite für die Öfen, Plumeaus zum Einmummeln, pinkeln im Stall. Unwirtlichkeit, laß nach! oder Die vergeblichen Mühen, ein Ferienhaus zu heizen  ■ Von Cornelia Gerlach

Leiser Schnee rieselt auf die Windschutzscheibe und vermischt sich mit dem Staub der Stadt zu einer undurchsichtigen Schmiere. „Noch 20 Minuten“, sagt Dagmar. „Wenn ich hier langfahre, dann fühle mich mich immer schon wie zu Hause.“ Schon die dritte unter den Freundinnen, die es hinauszieht in unwirtliche Gegenden. In Schlechtenwegen, am Rande des Vogelsbergs, hat sie ein Bauernhaus gemietet. Für die Wochenenden, für die Ferien, zur freien Entfaltung. Diese Häuser sind kleine Idyllen – im Sommer. Im Winter aber, wenn die kalte Nässe in die Wände zieht und die Tapeten sich wellen, wenn das frierende Wasser die Leitungen zu sprengen droht und das Mehl im Schrank schimmelt, dann zeigen sie ihr wahres Gesicht. Dann sind echte Freunde gefordert: Die im Herbst Holz hacken und im Winter heizen. „Wir machen es uns so richtig gemütlich“, hatte Dagmar versprochen.

Aus dem Schornstein des schmalen Fachwerkgebäudes, für die nächsten zwei Tage unser Quartier, kringelt sich Rauch. Am Ofen in der Stube sitzt Nicole, in Schaffelle gehüllt und mit einem Schal um den Hals. Sie ist vor vier Stunden eingetroffen, hat die Öfen mit Holzscheiten gefeuert und sich dann unter einem Berg von Decken im Bett begraben. Sie weist auf den Topf dampfender Spaghetti mit Käsesoße und Möhren. Zögernd ziehe ich meine Winterjacke aus und setze mich an den Tisch, stehe aber gleich wieder auf, um ein Schaffell über die Bretter der Eckbank zu breiten. Das Essen ist köstlich und kühlt schnell ab. Zum Nachtisch bereiten wir aus italienischem Rotwein, Zimt, Apfelsinen und größeren Mengen Honig einen Glühwein, der zunächst den Händen, dann der Kehle, dann der Seele guttut.

Der Ofen im Schlafzimmer ist aus. Er hat zwar ein bildhübsches gußeisernes Äußeres, aber nur ein sehr kleines Fach für Brennmaterial, und seine Klappen dichten nicht mehr. Er frißt und frißt und schickt die Wärme zum Schornstein hinaus. Der Himmel über dem Vogelsberg ist weit. Also Zeitung zerknüllen, Holzspäne darüber, dann Scheite und zum Schluß Briketts. Derweil freut sich das Auge an den Jugendstilornamenten. „Ein Hochzeitsgeschenk“, spekuliert Dagmar. „Von der Schwiegermutter!“ fluche ich, weil ich mich in der Kälte ausgekleidet habe, um meinen inzwischen auch kalten Pyjama anzuziehen und in den klammen Schlafsack zu steigen. Über das Ganze breite ich eine hauseigene und von daher leicht feuchte Decke. Eine Wohltat, den mitgebrachten dicken Wollpullover um Kopf und Schultern zu schlingen. Ich schicke einen bittenden Blick zum Ofen – und sehe, daß die Klappe noch offen ist.

Also alles rückwärts, Pullover ab, Decke weg, Schlafsack auf, und mit nackten Füßen die paar Schritte rüber, Klappe zu und wieder einmummeln. Der Lichtschein der Flammen tanzt über Decke und Wände. Kohlenmonoxid, denke ich und merke, wie mein Körper schwer wird, zu schwer, um noch einmal aufzustehen, die Klappe zu öffnen und zu warten, bis aus dem Feuer Glut geworden wäre. Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß der Lichtschein ja immerhin durch kapitale Ritzen kommt, die Sauerstoffversorgung also gesichert sein könnte, und schlafe ein.

Wer pinkeln will, muß in den Stall. Während man im abgeteilten Eck mit Kloschüssel sitzt, hört man das Mampfen der Kühe und das Grunzen der Säue. Je nach Charakter wirkt das beschleunigend oder erheblich behindernd. War man erfolgreich, tropft oder plumpst das Geschäft durch ein Loch hinunter in die Gülle. Mit der Wasserspülung, einem Gartenschlauch mit ziemlichem Druck, muß man die Spuren entfernen. Für die Morgentoilette gibt es ein Badezimmer mit fließendem Vogelsbergwasser. Ich beschließe, wasserscheu zu sein.

Ich entfache Feuer in den Öfen in der Küche, in der Stube und in Dagmars „Atelier“, lege reihum immer mehr Scheite und Briketts drauf. Zwischendurch ein warmer Tee. Nach einer Stunde kommt Nicole. Mit einem „Ist ja lausig hier!“ verschwindet sie wieder, um ihre warmen Sachen zu suchen. „Stell dir vor“, sagt sie, „wie das erst mal sein muß auf einem Hundeschlitten in der Arktis!“ Für mich ein verlockender Gedanke: ringsum die Schneelandschaft, hinterm Horizont das Ziel – und im Herzen das Bewußtsein, eine Heldin zu sein. Aber ich bin eine Idiotin.

Die Bauersleute sind in das „moderne“ Haus übergesiedelt, mit Rolläden vor den Fenstern, mit doppelglasisolierten und verputzten Siebziger-Jahre-Wänden. Ihre Ölheizung steuern sie mit einer elektronischen Zeitschaltuhr. Ich erinnere mich, wie die Bauersleute an jenem heißen Sommertag, als ich das erste Mal in Schlechtenwegen war, von früher erzählten. Im Winter hätten sie die große Küche nicht benutzt. Da haben sie auf dem Kohleherd im Eßzimmer gekocht. Die Stube nebenan war auch warm, und für die Schlafzimmer oben hatten sie Ölöfen. Und dann eine elektrische Heizdecke, damit das Bett erst mal warm war. „Dann sind wir zusammen unter die Federn“, erzählt der Bauer und zwinkert mir zu.

Weil vor dem Fenster die Sonne lacht, machen wir uns auf die Wanderung. Wie Puderzucker liegt der Schnee über der Landschaft. Auf der Stelle frieren die Zehen zu Eis und tauen erst nach vier Kilometern an einem windschattigen Hang wieder auf. Die Sonne schickt helle Strahlen zur Erde, die die Seele aus der winterlichen Düsternis locken und frei umherschweifen lassen.

Wir belehren uns mit Reiseführerwissen, erzählen von Vulkanen (heiß) und der Bronzezeit (so kalt, daß niemand hier siedeln mochte), vom 19. Jahrhundert (so lausig, daß viele nach Amerika auswanderten). Wir spekulieren über karge Ernten und die Formate der Öfen. Warum stehen in unserem Haus nur so winzige stehen, in Berlin aber – auch im dritten Hinterhof noch – große, die Wärme speichernde Kachelöfen? Waren es die Öfen, die die Dörfler in die Städte lockten? Stand die Technik des Heizens am Anfang der Landflucht, wurden Kacheln und Schamotte zum Motor der Industrialisierung? Langsam erwacht das Interesse an der Region. Gleichzeitig frieren die Schenkel trotz strammen Wanderns.

Der Gedanke an Gulaschsuppe in der nahen Stadt, in Herbstein, ist tröstlich gewesen. Aber die Schenke ist dienstags geschlossen. Nebenan, beim Fleischer, debattieren wir wohl zehn Minuten vor den beiden erstaunten Verkäuferinnen, welchen Braten wir zu Abend verspeisen sollten. Die Diskussion vorschnell beenden hieße: kaufen, zahlen und gehen. Raus in die Kälte. Schließlich spurten wir zum Supermarkt, wo das Gebläse in der Tür zunächst die schockgefrorenen Hände, dann auch die Nase wieder auftaut. Im gewärmten Mercedes-Taxi lassen wir uns nach Schlechtenwegen zurückkutschieren. Die Taxifahrerin lehrt uns, den Himmel zu beobachten. „Ist rot“, sagt sie, „wird kalt.“

Natürlich ist es kalt. Nur in der Stube noch ein bißchen Glut im Ofen. Ich heize im Schlafzimmer, suche alle Federdecken, Plumeaus und Schlafsäcke zusammen, schichte sie übereinander. Ab ins Bett. Über meinem zitternden Körper türmt sich ein schwerer Berg. Augen zu, volle Konzentration auf die Produktion von Wärme. Nach zwanzig Minuten gebe ich auf und trage den Berg wieder ab. Bis auf die unterste Schicht sind alle Decken so kalt wie vorher – oder doch fast.

In der Küche treffe ich Dagmar. „Ich bin so glücklich hier!“ strahlt sie, während sie Puddingpulver in die kochende Milch rührt. Ich suche den Fahrplan, will fliehen, doch nur morgens zur Schulzeit verbinden Busse das Dorf mit dem Rest der Welt. Also schiebe ich Briketts in alle Öfen und Kekse in den Mund. Nachts träume ich üble Geschichten von besetzten Häusern (ohne Öfen, natürlich) und prügelnden Polizisten. Als ich aufwache, bin ich froh: Nach dem Frühstück ist alles vorbei.

„Beim nächstenmal“, sage ich zu Dagmar, als sie mich im Auto zur Haltestelle bringt, „werd' ich mir Mühe geben, weniger über die Kälte zu meckern.“ Insgeheim aber ahne ich: Ein nächstes Mal wird es nicht geben. Soll das Haus doch beheizen, wer will.

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