: Ein Totenschädel auf Dienstreise
In Berlin werden jährlich über 100 Mord- und Totschlagsverbrechen verübt. 20 Prozent der Taten bleiben ungeklärt. Aus der Bevölkerung kommen nur noch wenig freiwillige Zeugenaussagen ■ Von Plutonia Plarre
Ein Totenschädel kommt nicht zur Ruhe. Dabei liegt das Verbrechen inzwischen mehr als sieben Jahre zurück: Im Spandauer Forst waren Waldarbeiter im November 1988 auf ein tiefes Loch gestoßen, das ein Fuchs gegraben haben könnte. Als sie im Erdreich wühlten, fanden sie die nahezu skelettierte Leiche einer Frau. Die einzigen Kennzeichen an dem verwesten Leib waren ein schmales Lederhalsband und zwei auffällige Ohranhänger in Blatt- und Gitterform. Die 4. Mordkommission der Kriminalpolizei nahm sofort die Ermittlungen auf, konnte den Fall aber bis heute nicht aufklären. Noch nicht einmal die Identität der Frau, die bei ihrem Tod etwa 25 bis 30 Jahre alt gewesen sein muß, ist inzwischen bekannt.
In Berlin sind im vergangenen Jahr über hundert Menschen einem Mord oder Totschlagsverbrechen zum Opfer gefallen. Die genaue Zahl wird demnächst in der Kriminalstatistik 1995 veröffentlicht. Im Vergleich zu 1994 weisen die Kapitalverbrechen nach Angaben des Leiters der neun Berliner Mordkommissionen, Bernd Meyer, einen leicht rückläufigen Trend auf. Zwanzig Prozent aller Mord- und Totschlagstaten werden nicht aufgeklärt. Im Vergleich dazu: Von allen 1994 in Berlin angezeigten Straftaten wurden 57,7 Prozent nicht aufgeklärt.
„Je länger der Mord zurückliegt, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, den Fall zu klären“, ist die Erfahrung der Fahnder. Daß der Kripo ein Serientäter wie Thomas Rung ins Netz geht, dessen Geständnis gleich zur Aufklärung von sechs alten Morden führt, kommt wahrlich nicht alle Tage vor.
Am 4. September 1995 wurde die 28jährige Dagmar Friese tot in ihrer Wohnung in Weißensee aufgefunden. Sie starb zwischen 14 und 16 Uhr durch einen „Angriff gegen den Halsbereich“, sagt der Leiter der ermittelnden 3. Mordkommission Klaus Ruckschnat. Anhaltspunkte auf ein Sexualdelikt oder einen Raub gebe es nicht. Die alleinstehende Frau und Mutter eines 8jährigen Jungen habe wenig Freunde gehabt und sei im allgemeinen sehr vorsichtig gewesen. „Wir haben das gesamte Umfeld der Frau bekannt gemacht, konnten aber keinen Tatverdächtigen ermitteln“, bedauert Ruckschnat. „Aber solange, wie wir noch etwas haben, wird ermittelt“.
Warum 20 Prozent der Taten nicht aufgeklärt werden können, hat viele Gründe. Manchmal gibt es wirklich keine Zeugen, weil Opfer und Täter keine Beziehung zueinander hatten, zum Beispiel bei Tötungen von Taxifahrern. Ein anderes Mal war das Opfer homosexuell und verkehrte in einem Milieu, das Berührungsängste mit der Kripo hat, und deshalb keine Zeugen zu finden sind.
Bei dem Russen Igor Petor Leontchikov, der am 2. März 1995 vor seiner Villa in Zehlendorf auf offener Straße exekutiert wurde, geht die Kripo davon aus, daß es sich bei den Tätern um organisierte Kriminelle und Mitglieder der Russenmafia handelt, die eigens zur Begehung des Mordes an- und danach sofort wieder abgereist sind.
Mangelnde „Geständnisfreudigkeit“
Bei den Tatverdächtigen verzeichnet die Kripo den Trend, daß die „Geständnisfreudigkeit“ weniger wird. „Wir sind immer mehr auf Sachbeweise angewiesen“, so Inspektionsleiter Meyer. „Wer planvoll tötet, streitet in der Regel ab. Wer in Rage tötet, dies aber nicht wollte, gibt viel eher zu“, ergänzt Gerhard Gebauer von der 4. Mordkommission. Seit der Wende sei die Aufklärung auch dadurch schwerer geworden, daß zwar häufig in Berlin „gemeuchelt“, die Leiche aber in Brandenburg oder noch weiter entfernt „abgelegt“ wird.
Aber auch beim alltäglichen Mord und Totschlag melden sich viel weniger Zeugen freiwillig, als dies noch in den 70er Jahren der Fall war, hat Gebauer nach 20 Jahren Diensterfahrung registriert. In den vergangenen Jahren wurde keine einzige Belohnung (meistens 5.000 Mark) ausgezahlt, die für sachdienliche Hinweise zur Ergreifung des Täters von der Kripo ausgelobt wird. „Die Nachbarn kennen sich nicht mehr, manchmal liegen die Leute tagelang tot in ihren Wohnungen“, weiß Inspektionsleiter Meyer. Ein Mord schockiere heutzutage doch kaum noch, „wenn die Leute von morgens bis abends nur noch Rambo im Fernsehen sehen“.
Auch wenn Kinder sexuell mißbraucht und ermordet würden, sei die Reaktion kaum anders. Zuerst sei die Empörung sehr groß, aber nach einigen Berichten sei der Fall für die Medien meist erledigt. Die achtjährige Marina Ermer verschwand am 10. Juli 1993 spurlos in Adlershof. Ein Jahr später wurde die skelettierte Leiche des Kindes auf einem Dachboden in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung gefunden. Nach so langer Zeit „war die Spurenlage natürlich gleich Null“, berichtet die Leiterin der 8. Mordkommission, Ilona Scholz. Das Problem auch hier: „Es gab keine Hinweise aus der Bevölkerung“.
„Der Anblick einer kindlichen Leiche ist schwerer zu ertragen als der eines erwachsenen Toten“, sind sich Scholz und ihre männlichen Kollegen einig. Am 17. Dezember 1995 wurde die Beamtin in die Winterfeldtstraße in Schöneberg zu einer „weiblichen Leiche“ gerufen. Tatsächlich handelte es sich aber um ein übel zugerichtetes Kind: Die 12jährige Vietnamesin Tay Lin Nguyen lag mit durchtrennter Kehle in der Badewanne der elterlichen Wohnung. Die Geschwister arbeiteten zur Tatzeit in einem Asia-Imbiß. Die Mutter befand sich auf Urlaub in Vietnam. Scholz ist sich sicher, daß das Kind geschrien haben muß, die Nachbarn darauf aber mit Ignoranz reagierten. Auch dieser Fall ist bis heute nicht aufgeklärt. Doch die Leiterin der 8. Mordkommission gibt sich sehr optimistisch: „Wir arbeiten täglich daran“. Man habe noch einiges in petto. „Manchmal werden Fälle erst nach drei oder vier Jahren aufgeklärt“.
Die Akten der unbekannten Toten aus dem Spandauer Forst werden aber wohl demnächst zu den ungeklärten Verbrechen in den Keller der Kripo geräumt. Dabei haben die Beamten in den vergangenen sieben Jahren kaum etwas unversucht gelassen, um wenigstens die Identität des Mordopfers zu klären. Sie durchforsteten sämtliche Vermißtenkarteien Europas, aber die Getötete war von niemandem vermißt gemeldet worden. Sie veröffentlichten den Zahnstatus der Frau in zahnärztlichen Fachblättern. Sie ließen sich von den Meldeämtern 3.000 Berlinerinnen benennen, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem Opfer hatten, also zwischen 1958 und 1962 geboren, etwa 1.65 Meter groß, zierlich und blond waren. Eine Frau, die diese Merkmale aufwies und nicht mehr lebte, befand sich jedoch nicht unter den genannten.
1992 schickten sie den Schädel der unbekannten Toten nach Bonn zu einem Experten für Gerichtsmedizin. Jener zog anhand der Anatomie Rückschlüsse auf das Gesicht der Frau und rekonstruierte dieses mit dem Computer für ein bundesweites Fahndungsfoto – ein Novum in der Kriminalgeschichte. Das Foto zeigt eine Frau mit einem maskenhaften Gesicht: „Die linke Gesichtshälfte dürfte leicht zurücktretend gewirkt haben, möglicherweise in Folge einer teilweisen Gesichtslähmung“, heißt es im Text des Fahndungsaufrufes. Nach der Veröffentlichung gingen aus der Bevölkerung zwar rund 270 Hinweise ein, die aber auch keine neuen Aufschlüsse brachten.
Die Chancen, den Fall nach so langer Zeit noch aufklären zu können, schätzt der zuständige Kripobeamte Gerhard Gebauer als gegen Null gehend ein. Das Problem sei, daß bei den Meldeämtern und Zahnärzten nach zehn Jahren die Aufbewahrungsfristen für Ausweise und Zahnunterlagen abliefen. „Wenn diese Unterlagen vernichtet sind, sind alle Möglichkeiten erschöpft.“ Dann kann sich der Täter wirklich in Sicherheit wiegen. Der einzige Hinweis auf ihn sind zwei bei dem Skelett gefundene kurze Kunststofftaue, wie sie bei Wassersportlern verwendet werden, und ein Jutesack.
Den Schädel der Getöteten brachte der Bonner Professor für Gerichtsmedizin gestern im Rahmen einer Dienstreise wieder mit nach Berlin. In den nächsten Tagen kommt er ins Polizeihistorische Museum am Tempelhofer Damm.
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