: Mein lieber Herr Gesangverein!
■ Ein Gespräch mit Sigurd Agricola, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Freizeit e.V., über Megatrends und Kommerz, Hallenbäder und DDR-Jugendklubs
taz: Der „Spiegel“ diagnostizierte kürzlich den Trend neue deutsche Spaßkultur. Sind die Deutschen lustiger geworden?
Sigurd Agricola: Bei all diesen Trends bin ich außerordentlich skeptisch. Wir gehen lieber in eine Kneipe, wo mehr los ist als nur Essen und Trinken. Das nennen wir dann Erlebnis. Aber wir haben doch das Bewußtsein, daß wir nur eine begrenzte Menge an Spaß haben können. Verallgemeinerungen auf gesellschaftliche Prägungen hin liebe ich nicht. Wenn ich mich umschaue, dann sehe ich nicht nur lustige Mitmenschen.
Warum rümpfen Sie beim Wort Trend die Nase?
Sie könnten auch gleich Dogma sagen.
Und wer setzt dieses Dogma?
Die Trendforscher.
Welche Megatrends orten Sie auf dem Freizeitsektor?
Wir haben gegensätzliche Trends. Einmal einen Trend zur Individualisierung, den wir in den letzten Jahrzehnten stark gefördert haben in Richtung Erlebnis und Wohlbefinden. Der Trend wird dadurch noch gesteigert, daß religiöse Bindungen weggefallen sind. Als Heil bleibt dann nur noch der eigene Körper. Daher auch der starke Bezug auf die Gesundheit. Andererseits braucht das Individuum andere Menschen. Keine andere Gruppe ist so dringend auf das Telefon als Kommunikationstechnik angewiesen wie die Singles. Eine These wie „Die Familie geht kaputt“ ist nicht haltbar. 80 Prozent der Kinder leben in vollständigen Familien.
Leben wir heute in einer Freizeitgesellschaft?
Das ist nur ein Aspekt. Viel eher leben wir in einer Kommunikationsgesellschaft. Allerdings haben wir an die 20 verschiedene Begriffe von Gesellschaft. Wenn ich zum Beispiel um eine Plastik herumgehe, dann sehe ich die einmal vom Hintern her und einmal vom Busen her. Das ist immer dieselbe Plastik, einmal als Busenplastik und ein andermal als Hinternplastik. Sicherlich stimmt es, daß die Wertigkeit existenzsichernder Arbeit sehr abgenommen hat. Heute arbeiten mehr Leute im Freizeitbereich als in der Landwirtschaft. Helmut Kohls Spruch vom Freizeitpark Deutschland ist einerseits richtig, weil wir erst das Bruttosozialprodukt erwirtschaften müssen, um den Freizeitpark bauen und nutzen zu können. Andererseits weiß ich aber nicht, was ein kollektiver Freizeitpark ist. Das ist Quatsch mit Soße.
Wie entstand die Deutsche Gesellschaft für Freizeit (DGF)?
Eine Gesellschaft wie die DGF war in den fünfziger Jahren nicht zu gründen, weil die nationalsozialistische Bewegung Kraft durch Freude und deren rigide Ideologisierung noch nicht wegzukriegen war. Deswegen wurde erst 1964 eine AG für Freizeit und Erholung beim Deutschen Sportbund gegründet. Anfang der 70er Jahre wurde dann ein Verein daraus. Damals war das noch eine elitäre Querschnittsgruppe. Dachvereine, die was mit Freizeit zu tun haben, wie die Gewerkschaften, schlossen sich zusammen und zahlten hohe Mitgliedsbeiträge. Jetzt bröckeln die alle ab. Das Geld bekommen wir heute vom Familienministerium im Rahmen einer institutionellen Förderung. Unsere innovatorische Arbeit können wir nicht über den Markt leisten.
Was macht die Deutsche Gesellschaft für Freizeit konkret?
Wir vernetzen Forschungsergebnisse zu zukunftsgerichteten Aussagen. Die können wir nicht morgen durch ein Marketingkonzept in Geld umwandeln. Es gibt wohl Abnehmer, aber keine, die Geld dafür zahlen wollen.
Ihre „Freizeit-Gesellschaft“ versammelt so unterschiedliche Mitglieder wie die AG Deutscher Chorverbände, den Bundesverband Automatenunterhalter, den Deutschen Bundeswehr-Verband, den Deutschen Sportbund und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Fühlen die sich alle von der DGF vertreten?
Unsere Mitglieder vertreten sich selbst. Wir sind ein Fachverband, aber kein Dachverband. Wir bieten einen grünen Tisch an, zum Beispiel über Freizeitmobilität. Da gibt es natürlich erhebliche Kontroversen.
Welche?
Zum Beispiel gehen die Mitglieder aus dem Non-profit-Bereich ganz anders mit Geld um wie die aus dem Profit-Bereich. Dann gibt es auch inhaltliche Auseinandersetzungen. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die Kirchen die Geldspielautomaten der Automatenaufsteller goutieren. Das ist ein ziemlicher Eiertanz. Wir sind kein Lobbyverein. Wir vertreten nicht die Belange des Freizeitwesens und der Einzelmitglieder, sondern das Sachgebiet Freizeit.
Wer regt denn Lernprozesse in diesem Sachgebiet an? Die Deutsche Gesellschaft für Freizeit oder Opaschowski mit seinem B.A.T.- Freizeitforschungsinstitut?
Opaschowski macht in erster Linie PR-Arbeit für den B.A.T.-Tabakkonzern. Wir von der DGF regen mehr politsch an, wir machen Resolutionen an Politiker, an die Ministerien. Nun sind wir in einer Krisensituation. Unser Identitätsbildungsprozeß in der Bundesrepublik ist 1989 durch die Wiedervereinigung unterbrochen worden. Die meisten Verbände haben sich neue Konzeptionen gesetzt. Beim Kongreß „Sport 2000“ des Deutschen Sportbundes ging es knallhart darum, wie die Sportvereine in Zukunft aussehen sollen. Denn die Ideologien des vorigen Jahrhunderts sind nicht mehr nutzbar. Andererseits ist es uns aber nicht gelungen, die Vernichtung der Freizeit-Infrastruktur in den neuen Bundesländern aufzuhalten. Zum Beispiel die Jugendklubs. Es gab ja hervorragende schulische Einrichtungen, dann die Häuser junger Techniker, Naturfreunde, Touristen, die gute Arbeit gemacht haben. Dabei spreche ich nicht über die Ideologie.
Es haben sich keine Träger für diese ehemaligen DDR-Freizeiteinrichtungen gefunden?
Völlig richtig. Damals ging eine Resolution an sämtliche Politiker und Ministerpräsidenten sowie die zuständigen Minister. Ich habe jetzt noch Briefe von Frau Rönsch (frühere CDU-Ministerin für Familie und Senioren, d. Red.) gefunden, die das sehr begrüßte. Aber gemacht worden ist nichts. Unter dem Strich ist viel zuviel kaputtgegangen, was man in einem behutsamen Prozeß hätte übertragen müssen.
Öffentlichen Freizeiteinrichtungen wie Schwimmbädern, Bibliotheken, Turnhallen, Theatern wird der Etat gekürzt. Zieht sich die öffentliche Hand im Freizeitbereich immer mehr zurück?
Durchaus, ja. Aber ist das falsch? 1978 haben wir eine Gesamterhebung über zehn Jahre Nutzung öffentlicher Bäder im Ruhrgebiet gemacht. Die Zahl der Bäder hat sich verdoppelt, während die Gesamtbesucherzahl etwas zurückgegangen ist. Wir haben also eine Überinfrastruktur geschaffen. Auch für den öffentlichen Bereich brauchen wir Unternehmensberater, die konzeptionelle Beratung machen und eine Bedarfsermittlungsmethodik anwenden wie im privaten Bereich, damit solche Fehlentscheidungen nicht eintreten.
Wie soll diese Unternehmensberatung aussehen?
Hinter den Kulissen läuft zur Zeit eine Diskussion über neue Steuerungsmodelle in der kommunalen Verwaltung, eine sogenannte Output-orientierte Arbeit. Das heißt, es werden als öffentliche Aufgabe Produkte definiert. Dann wird gefragt, was diese kosten und wie sie finanziert werden können. Auch hier ist das betriebswirtschaftliche Denken stark auf dem Vormarsch. Ein Vorteil dieses neuen Systems ist, daß man viel genauer beschreiben muß, was die Arbeit der sogenannten Konzernspitze ist. Man kann die Verantwortung des Staates aber nicht ganz abbauen, weil vieles auf dem Markt nicht zu verhandeln sind.
Aber weitet sich die Kommerzialisierung im Freizeitbereich nicht immer mehr aus?
Die Ausdifferenzierung von Angeboten ist nur möglich durch Kommerzialisierung, durch den Markt. Sie können ein Hallenbad, das für jeden Nutzer dasselbe bietet, öffentlich betreiben, aber nicht ein Spaßbad, das nur ein Bruchteil vom Angebot ist. Warum sollen 98 Prozent der Bevölkerung für 2 Prozent der Spaßbad-Nutzer bezahlen?
Sie befürchten nicht, daß kommerzielle Anbieter öffentlichen Einrichtungen vollends den Rang ablaufen?
Es geht im Grunde um eine Bedarfsorientierung. Jeder Anbieter im Freizeitbereich muß in einen Dialog treten mit demjenigen, dem er etwas anbieten will. Dieser Dialog gilt sowohl für den privatwirtschaftlichen Bereich, der Produkte verkaufen will, als auch im öffentlichen Bereich. Auf der kommunalen Ebene bedeutet das eine viel engere Zusammenarbeit mit den vorhandenen privaten Kräften.
Ist Freizeitforschung also doch nur Marktforschung?
Außer Opaschowski gibt es gar keine Freizeitforschung in Deutschland. Man kann Freizeitforschung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, aus der Psychologie, Soziologie, aus der Raumforschung, Geographie und so weiter. Überall gibt es kleinere Anteile in den Wissenschaften. Sie werden aber nur als Hobby betrieben. Für die Grundlagenforschung wurde in den letzten Jahren immer weniger Geld ausgegeben. Für die Marktforschung immer mehr.
Das Gespräch führten
Edith Kresta und Günter Ermlich
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