: Eine Art intellektueller Kartographie
■ Die Lesungsreihe "Das Weiße Meer" zeigt das Paradies entweder in der Struktur des Gartens oder der Wüste
Die Lesungsreihe „Das Weiße Meer“ – Bestandteil des großangelegten Mittelmeerzyklus im Haus der Kulturen der Welt – geht zu Ende. Nach Lesungen und Gesprächen zu den themenkomplexen „Städte, Reisen, Landschaften“ treffen sich in dieser Woche zum Abschluß noch einmal sechs Autoren – Rea Galanaki aus Griechenland, Yoram Kaniuk aus Israel, Vincenzo Consolo aus Italien, Mohamed Magani aus Marokko, Emine Özdamar aus der Türkei und Abdellatif Laabi aus Algerien – um über „Nachbarschaft“ und „Leben im Norden“ zu lesen und ins Gespräch zu kommen. Ihre deutschen Kollegen, die die Übersetzungen lesen, mischen sich in die Gespräche ein. Wir fragten Beate Endress und Bernd Scherer vom Haus der Kulturen der Welt nach einem ersten Rückblick auf „Das Weiße Meer“.
taz: Welche geopolitischen Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Lesungsreihe? Die Reanimation eines alten Vorstellungsraumes?
Bernd Scherer: Wir suchen nach Anknüpfungspunkten in der gegenwärtigen Literatur am Mittelmeer, die Ansätze für den Dialog zwischen den Kulturen bieten. Insofern ist eine Art intellektueller Kartographie intendiert. In unserem literarischen Programm aber geht es nicht in erster Linie um diese politischen Dimensionen.
Beate Endress: In den Matinees, den Sonntagsgesprächen mit den Autoren, haben wir sehr verschiedene Themen angesprochen, die sich einer großen Linie nicht unterordnen lassen. In der ersten Gesprächsrunde sprachen wir über die Farben des Mittelmeerraumes...
Bernd Scherer: „Das Weiße Meer“, das ist die Übersetzung des arabischen und auch des türkischen Wortes für Mittelmeer. Nicht von einer „Mitte“ ist hier die Rede, wie im europäischen Kontext, sondern von einer Farbe. Es war sehr spannend, in den Erzählungen aus dem Libanon, aus Algerien und der Türkei zu hören, was es hinsichtlich der Farbwahrnehmung Trennendes und Verbindendes gab. Über die Farbsymbolik definieren sich kulturelle Grenzen und Traditionsbrüche. Die Farbe Weiß war in Algerien traditionell mit Hochzeit verbunden, mit Freude, heute wird sie zunehmend mit dem Tod assoziiert und in Bestattungen virulent.
Beate Endress: Ein anderes Thema waren die Bezüge zum Meer – als Handelsweg, aber auch als Einfallstor. Die Autorin Etel Adnan aus Beirut verwies darauf, daß das Meer in den arabischen Ländern überhaupt nur in einer schmalen Küstenregion wahrgenommen wird. Im Hinterland existiert es nicht – dort ist der Bezug die Wüste, die zu durchqueren ist. So hat der scheinbar homogene Staat Libanon zwei Kulturen. Es gibt die Meereskultur mit ihren Netzwerken und direkt dahinter eine der Wüste zugeneigte Kultur.
Analog dazu beschreibt der Historiker Pierre Vilar am anderen Ende des Meeres die traditionelle spanische Kultur.
Bernd Scherer: Es gibt einige Fäden, die sich ausspinnen lassen. Im Januar hatte Lothar Trolle mit dem Libyer Ibrahim al-Koni ein langes Gespräch über Wüstenlandschaften. Es fand dabei nahezu eine Inversion der Symbolik statt. Die Stadtwüsten, die Trolle beschreibt, scheinen uns als menschliche Wüsten der Beziehungslosigkeit realer als die wirkliche Wüste. Die Wüste bei al-Koni hingegen hat Gartencharakter. Das Paradies – für uns ein Garten – ist für ihn die Wüste.
Eine ähnliche Beschreibung kennen wir aus Bosnien von Kara Hassan. An Sarajevo zeigt er, wie der christliche Teil der Stadt nach dem Konzept des Gartens strukturiert ist, der islamische Teil nach dem Konzept der Wüste. Im Rückblick auf alle diese Perspektiven bildete „Das Weiße Meer“ ein Gewebe. Wichtiger als die Entwicklung einer großen Linie ist es, dieses Gewebe zu verdichten.
Abschließend eine allgemeinere Betrachtung der Veranstaltung, im Hinblick auf die letzten Tage: Aufgrund seiner scharfen Kritik an den arabischen Intellektuellen (kürzlich in der Zeit zu lesen) steht Yoram Kaniuk hier in Berlin im Mittelpunkt des Interesses. Am Montag hat er im Rahmen der Lesungsreihe diese Kritik erneut formuliert. Seine Schriftstellerkollegen aus den arabischen Ländern würden den Friedensprozeß in Palästina sabotieren. Am kommenden Sonntag wird hier mit dem Algerier Abdellatif Laabi einer seiner Adressaten lesen – der französische Übersetzer jenes Mahmoud Darwisch, von dem Kaniuk schreibt: „Dem palästinensischen Dichter, vielleicht Nationaldichter, Mahmoud Darwisch wird es nicht gelingen, uns ins Meer zu werfen, und wenn es ihm gelingt, geben wir auch nicht auf. Wir haben in Auschwitz schwimmen gelernt.“ Das Berliner Haus der Kulturen der Welt als Bühne eines wieder beginnenden israelisch-arabischen Schriftstellergesprächs?
Bernd Scherer: Es ist richtig, daß einige der Autoren, die Yoram Kaniuk in seinem Artikel anspricht, in den letzten Monaten bei uns zu Gast waren: Adonis, den er als positive Ausnahme hervorhebt, und auch Mahmoud Darwisch. Was Darwisch mir gegenüber immer wieder betont hat, ist, daß er die Palästinenser zur Zeit in einer völlig machtasymmetrischen Position sieht. Eigentlich, sagte er mir, nehmen uns die israelischen Intellektuellen als Gesamtheit gar nicht wahr – wir lesen die israelischen Schriftsteller, aber die lesen nicht die arabischen Schriftsteller. Dem hat Yoram Kaniuk hier bei uns vehement widersprochen. Ob es zu einem Austausch mit Laabi kommen wird, ist noch ungewiß. Was dann auf jeden Fall noch einmal eine Rolle spielen würde, was Yoram Kaniuk schon am Montag betont hat: Man kann in Deutschland den Palästina-Konflikt nicht diskutieren, ohne darauf zu reflektieren, daß er seine Ursprünge in der Vertreibung der Juden aus Europa hat. Sicher ist, daß am Sonntag im Gespräch mit Abdellatif Laabi, dem Marokkaner Mohamed Magani und der Türkin Emine Özdamar erst einmal das Thema „Leben im Norden“ im Mittelpunkt stehen wird.
Beate Endress: Die Frage also, was passiert, wenn Menschen aus dem Mittelmeerraum ihre Heimat im Norden finden. Fangen wir an, maghrebinische Züge zu tragen? Wieso stehen in Berlin die Caféhausstühle auf der Straße? Interview: Fritz v. Klinggräff
Weitere Lesungen im HdKdW, John-Foster-Dulles-Allee 10: Do., 14.3. Vincenzo Consolo, Sizilien; 15.3. Mohamed Magani, Algerien; 16.3. Emine Sevgi Özdamar; 17.3. Juan Goytisolo, Frankreich/Marokko, jeweils 20 Uhr.
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