■ Prestigeobjekt Arbeitszeit: 100 Stunden schuften: Vollmundige Traumberufler
„Wer nichts wird, wird Wirt“, hat man früher gern gespottet. Doch mittlerweile ist dieser Spruch längst überholt. Wer nichts wird, oder besser gesagt: Wer nichts Anständiges gelernt hat, wird heute Journalist, Model oder Werber, erlangt also das, was gemeinhin als Traumberuf verkauft wird.
Die prominenten und zweidrittelprominenten Angehörigen dieser Berufsgruppen nutzen – ebenso wie Politiker – nahezu jedes über sie angefertigte Porträt, jedes Feature oder Interview, um zu betonen, wie gern und vor allem wieviel sie arbeiten. Wer nur 60 Stunden pro Woche malocht, gilt in diesen Kreisen schon als Faulpelz, 70 oder 80 müssen es schon sein, falls man sich als Spitzenkraft versteht oder eine werden möchte. Ja, ein paar Erfolgsmenschen haben sogar schon das monströse Wort „100-Stunden-Woche“ fallenlassen. Und komischerweise ist noch keiner ihrer Interviewpartner oder Stichwortgeber auf die Idee gekommen nachzurechnen und womöglich gar nachzufragen: Ah, Sie arbeiten also hundert Stunden pro Woche – wie geht das denn?
Gestehen wir einfach einmal jemandem zu, daß er fünf Tage hintereinander zwölf Stunden lang ackern kann. In diesem Fall wird besagte Person am sechsten Tag weder arbeiten können noch wollen, und am liebsten wird sie, halbwegs entspannt, aber noch nicht konsolidiert, allenfalls ein bißchen schaffen wollen, vielleicht vier, fünf Stunden. Macht also 65 Stunden. Aber selbst dieses Pensum, nach Meinung vieler Vielarbeiter eher lächerlich, schafft in Wahrheit kaum ein Mensch zwei Wochen hintereinander.
Und wie realistisch ist eine Arbeitswoche, die 70, 80 oder gar 100 Stunden dauert? Workaholics, die behaupten, sie seien so lange beschäftigt, sollte man fragen, ob sie auch die Fahrtzeit zum Büro berechnen. Und man sollte nachhaken, ob sie sich nur von Kaffee, Zigaretten, Vitamintabletten, Prosecco, Koks und Ritter Sport Olympia ernähren, oder ob sie nicht mehrmals in der Woche in Ruhe eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Wer darauf antwortet, er gehe selbstverständlich gern gut essen, wird sich dafür Zeit nehmen müssen. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, daß die harten Arbeiter sich von Fit for Fun haben verklickern lassen, wie man die physischen Voraussetzungen für mehrere aufeinanderfolgende Zwölfstundentage schafft – daß sie sich also mindestens einen Abend pro Woche im Fitneßstudio aufhalten.
Offensichtlich halten es die hier beschriebenen Zeitgenossen für Arbeit, wenn sie in der Badewanne liegen und über einen Werbeslogan nachdenken; oder wenn sie zur Geisterstunde an der Bar einer Bonner Parlamentarierspelunke über die Rede eines Kollegen diskutieren. Und wie verhält es sich mit den Drogerieverkäuferinnen, die ich nach Dienstschluß in der Bahnhofscafeteria mal wieder über ihren abgerissenen Stammkunden unterhalten, über diesen Stinkstiefel, der aussieht wie Harald Schmidt mit ungewaschenen Haaren und trotzdem immer das teuerste Klopapier kauft – arbeiten die abends auch noch?
Der ganze Heckmeck hat natürlich nur einen Zweck: Diejenigen, die etwas gelernt haben und sich heute mit einem anständigen Scheißjob herumquälen, fühlen sich ein bißchen mies, wenn sie lesen, daß die vorbildlichen Erfolgsmenschen in ihren Traumberufen 70, 80, 100 Stunden abreißen, während sie sich damit schwertun, statt 37 oder 38,5 wieder 40 Stunden pro Woche zu arbeiten. Und es vergeht nicht viel Zeit, bis der anständige Lohnabhängige bereitwillig 40 Stunden und mehr dient – in der Hoffnung auf ein besseres Arbeitsleben. Ja, da lacht der Unternehmer! René Martens
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