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■ SchlaglochBlue Boy und Rinderwahn Von Mathias Greffrath

„Ganz offenbar ist im Augenblick die Verbrennungskapazität nicht da. Aber beim Tempo des heutigen Fortschritts besteht überhaupt kein Zweifel, daß wir sie schnell installieren können.“

Sir David Nash, Bauerngewerkschafts-Präsident, „The Independent“, 1. April

Rinderwahn, also englische Zeitungen: Murdochs Sun treibt die fleischfressenden Unterschichten mit chauvinistischen Parolen in die Supermärkte. In der „seriösen“ Presse geht es fast nur noch um Ausgleichszahlung, die Kapazitäten der Fleischverbrennung, die Mathematik der Katastrophenprävention. Nicht um Sicherheit, sondern um Marktintervention. Nach dem Zusammenbruch des Fleischverkaufs ist das Verbrennen der alten Kühe die lukrativste Variante. Cash for Cows – die Solidarversicherung der Arbeiter wird abgeschafft, die EU-weite Haftung aller Verbraucher für das Gesamtrisiko der pervertierten Fleischproduktion eingeführt. Die „gesunde“ Reaktion des Marktes wird behandelt wie eine Naturkatastrophe, eine Debatte über die Massentierhaltung kommt nicht in Gang. In Wales sind zehn Jahre nach Tschernobyl die Schafe immer noch über den radioaktiven Grenzwerten, nun wird auch die Agrarkatastrophe chronisch, zum alltäglichen Gegenstand von Lobbystreit und Verwaltungshandeln.

Abends dann Trotz: Die Bratkartoffeln sind fett und kroß, das Steak leicht blutig. In der Kellerkneipe schenken zwei resolute Damen Köpi aus. An den Wänden hängen Fotos von Schauspielern, die keiner mehr kennt. Über dem Ofen ein kleiner Druck: ein schmaler Knabe in einem feinen blauen Anzug, mit melancholischen Zügen vor einer englischen Parklandschaft. Ohne Rinder. Gainsboroughs Blue Boy. Dem prosten wir zu, mit Köpi, aber nicht weil wir den englischen Rinderblues haben, den haben wir zwar, sondern weil dies ein besonderes Bild ist. Im Frühling 1913 saß eine junge Frau davor, die war im neunten Monat und sagte: So soll er aussehen.

Robert Jungk sah dann ganz anders aus: eher rund und gar nicht melancholisch. Kein Blue Boy. Später ein kleiner Mann mit frisch gerötetem Gesicht, blitzblauen Augen, wehenden weißen Haaren, in der Hand drei Plastiktüten, aus denen Zeitungen quollen. Immer unterwegs, immer mit diesem Ton der Dringlichkeit in der Stimme. In den siebziger Jahren, als er an der TU seine Seminare über die Veränderbarkeit der Technik hielt, fand er das Bild wieder, ein stabiles Überbleibsel aus der Zeit, als die Beschleunigung des Jahrhunderts noch nicht begonnen hatte.

Noch im Exil hatte er „Die Zukunft hat schon begonnen“ geschrieben, da stand schon alles drin: Atom-Fallout, die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Rationalisierung, die Entmachtung der Parlamente durch die Großkonzerne. Und auch die Folgen industrieller Fleischproduktion. „Wir betrachten unsere Kühe in erster Linie als Maschinen“, sagte ihm ein Farmer in Iowa, „bei unserem scharfen Produktionstempo sind die Kühe nach zweieinhalb Jahren Milchproduktion gewöhnlich ausgebrannt.“ Und die Hähnchenesser bekamen Brüste von den Hormongaben. Das war 1952, Robert Jungk ist noch 40 Jahre durch die Welt gefahren und hat uns beigebracht, daß jeder Modernisierung Verluste an Natürlichkeit und an Menschlichkeit folgen. Vom Hiroshima-Reporter wurde er zum Berichterstatter der Zukunft. Besser der Zukünfte. Denn noch ist ja nichts entschieden. Darauf bestand er bis zum Schluß.

„Menschenbeben“ hieß eines seiner Bücher, es handelte von dem Riß, der durch die Welt geht, durch BDI-Präsidenten, CDU- Fraktionen, Chemiemanager, die gegen die bessere Einsicht ihrer Töchter immer noch dem Status quo Tribut zollen. Robert Jungk hatte einen Blick für die Quanten der Veränderung. Wenn er auf Verzagtheit stieß, nahm er sein Publikum in den Blick und sagte: „Ich habe erst kürzlich erfahren, daß es nur vierzehn Eskimos waren, die in Alaska einen Wasserstoffbombenversuch verhindert haben. Es waren immer nur vierzehn Menschen, zuerst. Oder sieben. Oder zwölf.“

Jungk ist kein Naiver, schwarzer Realismus hat ihn begleitet. „Natürlich kann das Ende des Kalten Krieges neue Formen der Barbarei mit sich bringen“, sagte er, „aber das werden die Menschen nicht ertragen.“ Ja, es könne sein, daß die großen Probleme des nächsten Jahrhunderts – Bevölkerung, Naturmanagement, Hunger – zu furchtbaren Diktaturen führen: „Aber auch dies wird seine Nebeneffekte haben.“ Und diese kleine Lücke zwischen Ja und Aber, die schwere Sekunde, in der die Kritik an der Hartherzigkeit der Strukturen in den Appell an die Veränderbarkeit umschlägt: Das ist die Jungksche Sekunde. Wenn man ihn fragte, warum er nicht müde wird, dann lächelte er. Erzählte vielleicht von der Verpflichtung der Entronnenen. Oder von Moritz, dem gelb-rot-blauen Stehaufmännchen seiner Kindheit, für das jede Niederlage nur eine Sekunde dauerte. Eine Jungksche Sekunde.

Er kam aus den großen Katastrophen des Jahrhunderts und begleitete uns durch die Zeit, als die chronischen Katastrophen der Industriezivilisation noch frisch waren, man noch glauben konnte, so schnell wie sie entstanden seien, könne man sie noch einmal wenden. Diese Empörung der frühen Jahre hat uns weit gebracht. Bis nach Rio. Bis zum Öko-Institut in Wuppertal. Bis zum Dreiliterauto. Aber nun sind wir über die Schwelle, und die Fähigkeit zur Empörung nimmt ab in dem Maße, in dem das Charisma, die Welt zu retten, sich in den Gängen der Behörden, den Windungen der Schriftsätze veralltäglicht und Aufklärung vom schönen Sturmangriff zum alljährlichen Flicken der Lawinenzäune wird. Die „Risikogesellschaft“ nicht einmal mehr ein frisches Thema fürs Feuilleton, und Greenpeace ein guter Multi, aber eben auch ein Multi. Und auf einmal, beim vierten oder fünften Köpi, mit dem Blick auf den müden blauen Knaben, verstehen wir zum erstenmal ganz tief innen die 20jährigen, denen es nicht mehr die Hauptsache ist. Die nie geglaubt haben, man könne „die Welt retten“. Die sind damit groß geworden. Die haben nie an die „allgegenwärtige und umfassende Mentalitätsänderung“ geglaubt, von der Blue Boy oft gesungen hat.

Da hören wir auch schon seine helle, drängende Stimme. „Ja“, sagt sie, „aber denk doch mal an die Gespräche, die jetzt überall, wo Menschen sich zum Essen hinsetzen, geführt werden. Da ändert sich doch gerade was ...“ Dann kommt er, wie immer, in Fahrt und zieht eine alte Bild-Zeitung aus der Plastiktüte. „Das ist doch interessant hier: Da haben die Unternehmensberater von Kienbohm berechnet, daß allein durch intelligente Nutzung der Abfallstoffe im Jahr 40 Milliarden Mark in Deutschland gespart werden könnten. Da kommt doch auch was in Bewegung ...“

Er ist, wie immer, nicht zu bremsen, und bevor wir ihm von der englischen Regierung erzählen oder vom Kanzler, der die Ökosteuer gekillt hat, bevor wir also von den langweiligen Unendlichkeiten der Aufklärung im Zeitalter der Globalisierung rumjammern, bringen uns die beiden resoluten blonden Damen schnell noch zwei Köpi. Prost, Robert!

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