: Das Zahlenritual von Nürnberg
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit zelebriert die Arbeitslosenzahlen einmal im Monat vor internationalen Medien. Charly Schmidt ist als Wirtschaftsjournalist schon seit über 40 Jahren dabei ■ Von Bernd Siegler
Der Auftritt ist minutiös vorbereitet. Kurz vor zehn Uhr kommen zwei Männer und hängen eine große Grafiktafel an die Wand. Die Damen vom Service schenken schnell noch die letzte Tasse Kaffee aus. Wenn der Uhrzeiger auf 10 Uhr springt, betritt der Matador den Saal. Er bahnt sich den Weg vorbei an den Fernsehkameras, schüttelt allen die Hand und geht zügig zu seinem Platz.
Der Matador heißt Bernhard Jagoda und ist seit Anfang 1993 Präsident der Bundesanstalt für Arbeit (BA). Auf seinem Spielplan steht eine Tragödie: die Arbeitslosenzahlen. Und das unterscheidet ihn von anderen Behördenleitern dieser Republik. Monat für Monat hat der CDU-Mann einen Gratisauftritt im Fernsehen und ist bundesweit in den Schlagzeilen. Der schlichte Satz „Der Präsident hat das Wort“ seines Pressesprechers Eberhard Mann ist der Startschuß für Jagodas Hiobsbotschaften. Etwa zehn Minuten braucht er, die zu verlesen. Mal mehr, mal weniger, je nach Tagesform.
Jagoda präsentiert die Arbeitslosenzahlen wie den Wetterbericht. Mal ist der „November extrem kalt“, der „Dezember vor allem zu kalt“ und der „Januar anhaltend kalt“, dann aber „schönt die Frühlingssonne die Daten“. Immer wieder neue Arbeitslosenrekorde, eine undankbare Aufgabe. Und daran ist das Wetter schon lange nicht mehr schuld. Deshalb spricht der Chef der Behörde mit knapp 95.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 100 Milliarden Mark auch „von Dellen und Kerben“ in der Konjunktur. Er will den „Standort Deutschland nicht kaputtreden“, andererseits aber auch „nichts gesundbeten und rosa malen“. Ein Spagat, der Jagoda nicht immer gelingt. Dann bleibt ihm nur der Appell: „Schauen Sie mich an, Sie sehen einen Optimisten. Wir dürfen uns von dem Ziel der Vollbeschäftigung nicht verabschieden.“
4,3 Millionen Arbeitslose, und da spricht einer von Vollbeschäftigung? Aber niemand im großen Sitzungssaal schüttelt den Kopf. Die Riege der neben Jagoda sitzenden Referenten sowieso nicht, die gut zwanzig JournalistInnen auch nicht. Alle nehmen ihm ab, daß er glaubt, was er sagt.
Für die Kameraleute ist diese „PK“ allmonatlich eine echte Herausforderung. Wie nur setzen sie die immergleiche Runde so ins Bild, daß sich der Beitrag nicht nur von dem der Kollegen, sondern auch von dem des Vormonats unterscheidet? Totale, Naheinstellung, Schwenk über den runden Tisch. Aber dann? Dann werden die Kameras geschultert und die Pirsch auf den Journalisten oder noch besser die Journalistin, die sich gerade mit einem Stift Anmerkungen
macht, geht los. Sie wird die Beute der Kameramänner. Von der Totale ran an den Stift, hinauf zum Gesicht und zurück.
Ist Jagodas Statement getan, kommt der zweite und zugleich letzte Akt: die Fragerunde. „Die Fragen bitte“, tönt Eberhard Mann und schaut mit ambivalentem Blick in die Runde. Einerseits hilfesuchend, aber auch signalisierend, daß besser keine Fragen gestellt werden sollten. Doch da sei Karlheinz Schmidt, genannt Charly, vor.
Schmidt ist ein Mann der ersten Stunde. Schließlich verfolgt er die Pressekonferenz, seit es die Bundesanstalt für Arbeit gibt. Seit 44 Jahren hat der 74jährige Wirtschaftsjournalist kaum einen Arbeitsmarktbericht ausgelassen. Und Monat für Monat hat Schmidt die erste Frage. „Ich halte mich von Haus aus zurück, aber wenn Herr Mann seinen Blick schweifen läßt, denn bringe ich eben eine Frage“, will er die Rede vom Gewohnheitsrecht nicht gelten lassen.
Viele Kollegen wüßten eben nichts zu fragen, entschuldigt sich der mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande dekorierte Journalist, der hauptsächlich für das Handelsblatt schreibt. Oft hilft im großen Sitzungssaal der Bundesanstalt aber auch eine Schmidt- Frage nicht, um das Eis zu brechen. „Manchmal fühle ich mich als Alleinunterhalter, aber das tue ich dem Präsidenten zuliebe“, sagt Schmidt, der rechts neben der Referentenriege seinen Stammplatz hat, den ihm auch kein anderer streitig machen würde.
Das Monatsritual hat eben seine festen Regeln. Dazu gehören die Sitzordnung und die Reihenfolge der Fragesteller. Schmidt erinnert sich noch an Zeiten, als die Pressekonferenz nicht schon nach zwanzig oder manchmal gar nur fünfzehn Minuten vorüber war: „Heute können doch viele das Ende kaum mehr erwarten, die sitzen schon auf Kohlen.“
Aber noch etwas war früher anders. Statt opulent belegter
Brote und kleiner Fläschchen Frankenwein stehen nur noch Wasser- und Saftfläschchen auf den Tischen. Als Schmidt anfing, herrschte Arbeitskräftemangel. Julius Scheuble und Anton Sabel, die ersten Präsidenten, konnten noch Arbeitslosenquoten von weit unter einem Prozent verkünden. Doch schon Jagodas Vorgänger, der ehemalige Staatssekretär Heinrich Franke, mußte, vor allem nach der deutschen Vereinigung, Negativrekorde verkünden. Der war, beschreibt Schmidt den Westfalen, „ein Mann des geschliffenen Wortes, der nie zuviel gesagt hat“.
Franke verstand es, von „leichten Eintrübungen“ zu reden, wenn die Arbeitslosenzahlen wieder einmal um 150.000 in nur einem Monat gestiegen waren. Er verordnete „Optimismus gepaart mit Geduld“. Für die zunächst geringe Inanspruchnahme von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten hatte er den Satz parat: „Die Pferde saufen noch nicht.“ Hitverdächtig war sein tröstender Spruch vom März 1991: „Arbeitslosigkeit ist zunächst kein Zustand, sondern ein Vorgang.“
„Wenn ihr euch auf keinen anderen einigen könnt, dann mach' ich's eben“, kommentierte Jagoda im Januar 1993 bescheiden seine Berufung. Als er knapp einen Monat später bereits bei seiner ersten Pressekonferenz mit 3,5 Millionen Arbeitslosen einen neuen Rekord verkünden mußte, da versprach er, künftig die „Wahrheit auf den Tisch zu legen“, auch wenn ihm der Arbeitsmarkt „zur Zeit wenig Freude“ bereite. Die
Freude wurde nicht größer, aber schon im Juni 1994 hatte Jagoda die Formulierungskünste seines Vorgängers in den Schatten gestellt. Die „negativen Folgen werden deutlich kleiner“, der „Abbau verlangsamt sich“ und der „Anstieg der Arbeitslosigkeit schwächt sich ab“. Allenthalben trotz steigender Arbeitslosigkeit eben „positive Zeichen“ und „Licht bei all dem Schatten“.
Solche Formulierung sind Ergebnis einer kleinen Redaktionskonferenz und zahlreicher Feinabstimmungen im Vorfeld der Pressekonferenz. Dort wird gestritten, ob der Trend nun als „günstiger“ oder „weniger ungünstig“ bezeichnet wird und ob Wertungen wie „besonders“ oder „spürbar“ richtig placiert sind. Jagodas endgültiges Statement ist dann, so der Spiegel, „die kleinste vollständige Wahrheit bei größter noch vertretbarer Offenheit“. Und jedem ist klar, daß der Präsident mehr weiß, als er sagt. Auch Charly Schmidt bohrt nicht nach, wenn Jagoda mal wieder die Fragen nicht so ganz befriedigend oder gar ausweichend beantwortet. „Ich will den Betrieb ja nicht aufhalten.“
Bevor jedoch die Redaktionsrunde überhaupt über Formulierungen streiten kann, haben die Statistiker der Bundesanstalt, der elf Landes- und der 184 normalen Arbeitsämter ganze Arbeit geleistet. Alles läuft generalstabsmäßig auf den Tag X zu, den Tag der Pressekonferenz. Zum Stichtag, so BA-Referatsleiter Hans Rathai, zählen die Arbeitsämter ihre Arbeitslosen. Am 1. April wurden die bis zum 26. März er
hobenen Daten den Landesarbeitsämtern zugeleitet. Zwei Tage später war in der Zentrale in Nürnberg der „Zahleneingangsendtermin“. Rathai: „Dann rotiert regelmäßig das ganze Referat. Von früh bis abends sind alle gefordert.“
Seit sechzehn Jahren trägt er die Verantwortung für die Arbeitsmarktstatistik. Der stetige Umgang mit den nüchternen Zahlen lassen den 58jährigen nicht kalt: „Die hohen Zahlen bewegen einen schon, da stehen ja Menschen und Schicksale dahinter.“ Er sieht sie als Ansporn für Sorgfalt und Exaktheit, denn schließlich „sollen unsere Zahlen ja auch etwas bewegen“.
Für die drei Frauen vom Service mit dem Kaffeewägelchen ist die Pressekonferenz ein „ganz normaler Auftritt wie jeder andere“. „Aber wenn der Präsident kommt, dann müssen wir raus“, erzählt Monika Hohmann hinter vorgehaltener Hand. Auch für die Männer mit der Grafiktafel ist ein ganz normaler Tag. Früher hing die Statistik schon Stunden vorher im Sitzungssaal. Aber nachdem Presseagenturen die wesentlichen Zahlen schon um neun Uhr verbreitet haben, wird die Tafel erst kurz vorher aufgehängt und die kopierten Berichte sind mit der Sperrfrist 9.55 Uhr versehen. Für die Agenturjournalisten eine stressige Angelegenheit. Jeder hofft, noch in den 10-Uhr-Nachrichten zu landen. Da sich hohe Arbeitslosenzahlen auch an den Börsen auswirken, kommen Mitarbeiter ausländischer Agenturen wie „Bloomberg Business News“ aus den USA eigens nach Nürnberg. Hundertfach wird Jagodas Bericht dann in die Welt gefaxt.
Genau dies könnte das Ende des Nürnberger Rituals bedeuten. Für Charly Schmidt eine grauenhafte Vorstellung, wo doch Nürnberg gerade dadurch „in den Medien aufgewertet“ werde. Deshalb versucht er, durch beständiges Nachfragen die Existenzberechtigung der Pressekonferenz zu gewährleisten: „Man muß den Topf am Kochen zu halten.“ In einem Jahr will er sich endgültig auf das Altenteil zurückziehen. Vorbei mit der same procedure every month?
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen