piwik no script img

Am Berg der Möglichkeiten

Multiples Elektronikduo: Acid Jesus, Alter Ego, Sensorama – dahinter stecken zwei Leute, für deren Vorabpressungen englische Journalisten extra einfliegen  ■ Von Martin Pesch

Anfang der neunziger Jahre stand Jörn Elling Wuttke in der Tür von Heiko Schäfer, der gerade in Frankfurt am Main mit einem Partner die Plattenfirma Ongaku Musik gegründet hatte. „Hier, klingt ein bißchen wie Carl Craig“, sagte Wuttke und drückte Schäfer eine Demokassette in die Hand.

Die Aufnahmen waren von Acid Jesus, einem Projekt von Wuttke und Roman Flügel. Der Labelchef, nicht besonders neugierig auf mit Eigenlob präsentierte Anfängeraufnahmen, schob die Kassette dann doch einmal in den Rekorder. Als die ersten Takte erklangen, war Schäfer klar, daß er einen ganz besonderen Fisch an der Angel hat. Schäfer und Partner gründen ein Extralabel, Klang Elektronik, auf dem die erste Acid-Jesus-Maxi, „Move Your Body“, erscheint. Sie wird ein veritabler Klubhit und ist der sprichwörtliche Stein, der ins Wasser fällt und bis heute Wellen schlägt.

Acid Jesus ist nämlich nur eines der vielen Projekte des Duos Wuttke/Flügel, der in den Achtzigern mal mit britischer Indie-Musik angefangen hatte. Alles fließt. Namen sind nichts Fixes, ein Label nichts Bindendes. Man ist mehrere Personen. Als die Rave-Welle von der Insel herüberschwappte, legte sich Wuttke die nötigen technischen Kenntnisse im Studio zu. Zur richtigen Zeit lernte er Roman Flügel kennen, der, um einige Jahre jünger, gerade aus dem Schatten von Kraftwerk und Klavierunterricht herausgetraten war. Sie nennen sich Acid Jesus: „In dem Namen steckt eigentlich unser Protest gegenüber der damals grassierenden Acid-House-Mode. Uns interessierte immer mehr die alte Schule, also so ziemlich alles, was aus Detroit kam.“

Es spricht sich herum. Acid Jesus machen Bekanntschaft mit dem Busineß. Und schlechte Erfahrungen. Als Primitive Painter spielen sie eine LP für das belgische Label R&S ein, ohne je eine saubere Abrechnung zu erhalten. Ähnliche Spielchen trieb man mit von ihnen nie autorisierten Kompilationsbeiträgen. Von Sven Väth kommt das seriöse Angebot, für dessen Zweitlabel Harthouse zu produzieren. 1994 erscheint dort das erste Album von Alter Ego.

Sehr ruhige, melodiereiche und etwas überambitionierte Musik. Durch die guten Vertriebsstrukturen der größeren Firma erregen sie einige Aufmerksamkeit in England: „Durch Alter Ego sind auch unsere Acid-Jesus-Platten besser verkauft worden.“ Diese Tatsache half wohl auch, die ersten Verstimmungen abzumildern, die immer dann auftauchen, wenn die Grenze zwischen Major und Indie überschritten wird. „Man darf sich das nicht falsch vorstellen. Harthouse ist keine Riesenfirma. Wir haben es dort ja auch nur mit fünf Leuten zu tun. Wir schmieden mit denen zwar keine Pläne in der Pizzeria nebenan, aber familienmäßig ist es doch noch.“

Was in anderen Musikbereichen zwischen Major und Independent zu erbitterten Glaubenskriegen geführt hat, löst in der Technoszene oft nur ein Achselzucken aus. Flügel/Wuttke haben aber trotzdem für unangenehme Begleiterscheinungen ein Gespür entwickelt. Der aktuelle Acid-Jesus-Remix des Stücks „Deep in Velvet“ von Phillip Boa entspricht so gar nicht der Erwartung, die die Plattenfirma vermutlich hegte, als sie einige Undergroundproduzenten um Unterstützung bat. „Die Plattenfirma haßt diesen Mix natürlich. Aber Boa schickt uns Ansichtskarten von Malta.“

1995 produzieren Flügel/Wuttke in ihrem Darmstädter Studio ein Album unter dem Namen Sensorama für die Firma Ladomat. Der darauf befindliche Vocalsample des Blumfeld-Sängers Jochen Distelmeier spiegelt nicht nur die Geschichte des Labels, das als L'Age D'Or deutschsprachige Gitarrenbands veröffentlicht, es zeigt auch die Vorliebe der Technoproduzenten, ihre Musik über einen festgelegten Sektor hinaus zu entwickeln. „Allen unsere Projekten liegt eigentlich der Ansatz zugrunde, Techno musikalisch aus den Begrenzungen der Tanzfläche zu befreien. Wobei uns immer wichtig ist, diesen Bezug zu halten. Wir gehen oft in Klubs, legen auch schon mal auf, und es gibt von uns immer wieder Tracks, die wir als Hommage an diese Kultur produzieren.“ Am deutlichsten ist dies natürlich bei Acid Jesus zu spüren, bei einigen Sensorama-Stücken oder auch bei den House-Tracks von Roman IV. Das ist eines der Soloprojekte von Roman Flügel, der als Ro 70 gerade auch ein Album auf dem Heidelberger Label Source veröffentlicht hat.

Jenseits der Tanzfläche arbeiten und den Sichtkontakt trotzdem nicht abreißen lassen – diese Haltung, die Flügel/Wuttke für sich beanspruchen, ist von britischen Labels wie Warp oder Clear geprägt, von denen Musik als Mix aus Techno, Ambient und Elektro kommt. „Das ist natürlich eine Tradition, die für uns wichtig ist. Deswegen ist es gut, daß die Leute, die für uns maßgeblich waren oder noch sind, langsam auf unsere Platten aufmerksam werden.“ Flügel/ Wuttke haben einen Status erreicht, der sie genießen läßt, daß international renommierte Produzenten ihr Sensorama-Album remixen; oder daß derzeit jedes Wochenende britische Journalisten einfliegen, um sich Vorabpressungen der neuen LP von Alter Ego abzuholen und mit ihnen abzuhängen. Das wurde auch Zeit. Denn gerade „Decoding The Hacker Myth“ zeigt sie auf der Höhe ihres Könnens. Jedes der elf Stücke klingt, als würden die Produzenten aus einem Berg möglicher Musik ein Körnchen Gold nach dem anderen herauswaschen und sie dann mit feinmechanischer Präzision aneinanderfügen. Durch den weitgehenden Verzicht auf Sequenzer und computergesteuerte Patterns erreichen Alter Ego eine bis dato nicht gehörte organische Fülle. Das kann sich in einem jazzmäßig schnarrenden Baß in „Slacker“ oder in den frei fließenden Melodien auf „Lavender“ zeigen.

Daß diese Platte innerhalb eines Marktsegments namens Techno vertrieben wird, dessen KonsumentInnen zu einem großen Teil die sogenannte Volljährigkeit noch nicht erreicht haben, ist einer der aufmunterndsten Gedanken, die man zur Zeit haben kann.

Aktuelle Platten von Flügel und Wuttke:

Alter Ego: „Decoding The Hacker Myth“ (Harthouse/WEA)

Acid Jesus: „Radiation“ (Klang/ Neuton)

Sensorama: „Welcome Insel“ (Ladomat 2000/RTD)

Sensorama: „Zu Gast auf der Welcome Insel“ (Remixe) (Ladomat 2000/RTD)

Ro 70: dito (Source/Efa)

Roman IV: „FKK“ (Playhouse/ Ladomat 2000/RTD)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen