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Bonner Nachschlag trifft Arbeitslose

■ Das Paket ist geschnürt: Sozialabbau wird vor allem Arbeitnehmer, Rentner und Arbeitslose treffen. Selbst CDU-Sozialpolitiker sind über Nullrunden bei Sozialhilfe und Arbeitslosengeld konsterniert

Bonn (dpa/AP/taz) – Der Kanzler blieb sich treu: Jede Woche eine Grausamkeit, so kam das Sparpaket Stück um Stück an die Öffentlichkeit. Kurz vor Schluß gab es gestern den letzten Nachschlag. Der traf diesmal die Arbeitslosen: Sie sollen nur noch fünf Jahre lang Arbeitslosenhilfe (bisher unbefristet) bekommen. Das sickerte gestern mittag in Bonn durch. Außerdem will die Regierung Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern 1997 eine Nullrunde verordnen – ist ja auch viel einfacher als im öffentlichen Dienst.

Überrascht von den Plänen waren wohl auch Sozialpolitiker der Koalition. Sie sprachen von einer „neuen Geschäftsgrundlage“ für die Beratungen.

„Im Staat ist es nicht anders als im Privatleben: Man kann nicht über seine Verhältnisse leben“, begründete Kohl vorweg in Bild die Sparpläne. Nach seinen Vorstellungen müssen sich in der Familie vor allen Oma und die Kinder einschränken. Nur anderthalb Stunden brauchte die Sparrunde gestern morgen, um die letzte Milliarde von den insgesamt 50 ins Paket zu stopfen. Nach dem, was bekannt wurde, stapeln sich folgende Ingredienzien in Kohls Karton:

– Kindergeld und Kinderfreibetrag: Ihre Anhebung um 20 auf 220 Mark soll auf Anfang 1998 verschoben werden. Für SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist das ein Verstoß gegen das Urteil des Verfassungsgerichts zur Sicherung des Existenzminimums. Sie drohen bereits mit einer Klage in Karlsruhe. Selbst der Chef der CDU-Sozialausschüsse, Rainer Eppelmann (CDU), will lieber die Mehrwertsteuer verteuern, als die Anhebung zu verschieben.

– Lohnfortzahlung bei Krankheit: Sie soll auf 80 Prozent in den ersten sechs Wochen sinken.

Grausen im Wochentakt – fertig ist das Paket

Nach Einschätzung des DGB betrifft diese Änderung zwar 62 Prozent der Arbeitnehmer nicht, etwa im Metall- und im Versicherungsgewerbe, da die Lohnfortzahlung dort tariflich geregelt sei. Bei etwa 15 Prozent gelte aber die gesetzliche Regelung direkt und bei weiteren 23 Prozent verweise der Tarifvertrag aufs Gesetz.

– Krankengeld: Diese nach sechs Wochen fällige Leistung der Krankenkassen soll um zehn Prozent vermindert werden.

– Rente: Frauen sollen erst mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen statt mit 60. Für die Berechnung der Rente sollen Ausbildungszeiten nur noch für höchstens drei Jahre anerkannt werden. Bisher waren es sieben. Ab 590 Mark Einkommen sollen Studenten zukünftig in die Rentenkasse zahlen.

– Arzneimittel: Eine Mark mehr Eigenbeteiligung (Brillen 20 Mark). Langfristig soll auch der Zuschuß zum Zahnersatz entfallen. Den bekommt zukünftig nur, wer noch dieses Jahr 18 wird. Kuren sollen auf drei Wochen begrenzt und nur noch alle vier Jahre gewährt werden.

Die SPD kritisierte die Pläne. „Einschnitte ins soziale Netz“ seien nicht die Lösung, sagte der Sozialexperte Rudolf Dreßler. Die SPD will heute im Bundestag ein eigenes Sparprogramm vorstellen. Danach soll die Bekämpfung von Wirtschaftskriminaltität, Subventionsschwindel und Steuerhinterziehnung wieder Geld in die Bonner Kassen bringen. Außerdem denkt die SPD an die „Besserverdienenden“: Sie möchte die „Solidarleistung der Einkommensmillionäre in Deutschland, der Grundstücks- und Bargeldbesitz- Millionäre“ wiederbeleben, wie in den fünfziger Jahren, so Dreßler.

Auch die bündnisgrüne Vorstandssprecherin Sager hält nichts von Kohls Paket: Wer den Sozialstaat zum „Schmiermittel für die Ökonomie“ mache, gefährde den sozialen Konsens.

Entgegen früheren Meldungen soll die Rentenanpassung nicht angetastet werden. Dafür plant die Regierung eine Lockerung des Kündigungsschutzgesetzes. Bisher gilt es für Betriebe mit mehr als fünf Angestellten. Die Grenze soll auf zehn angehoben werden. Die Regierung will außerdem die geplante Steuerreform auf 1997 vorziehen.

Heute will Kohl das fertige Bündel im Bundestag in einer Regierungserklärung vorstellen. mur

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