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Ein Tag in meiner realen Hölle

■ Für einen Schuß Heroin muß Anja, 14, Küßchen verteilen

Ich wache im besetzten Haus auf. Die Sonne knallt auf meinen Schlafsack. Es ist 12 Uhr mittags. Aus dem Nebenzimmer dröhnt laute Punkmusik, ein Hund bellt. Ich stehe auf.

Ich bin naßgeschwitzt, und überall kleben Hundehaare und Dreck. Alle Glieder schmerzen, als hätte ich Muskelkater am ganzen Körper. Turkey*. Mein erster Gedanke: Wo bekomme ich den ersten Druck her? Ich ziehe meine versifften Klamotten an, bunker mein Spritzbesteck in meiner Bomberjacke ab und mach mich so erst auf den Weg zum Bahnhof Zoo.

Draußen ist herrliches Wetter, die Leute lachen, schlecken ihr Eis und sind gut drauf, nur mich kotzt alles an.

Noch schlimmer als die Gliederschmerzen sind die Schmerzen im Kopf. Ich könnte laut schreien. Am Zoo latsche ich erst mal quer durch den Bahnhof, keine Sau da, die mich einladen will. Am Breitscheidplatz ist auch nix los. Ich versuche es im Tiergarten, aber ohne Geld läuft da auch nichts. Inzwischen ist es schon 19 Uhr, und der Entzug wird schlimmer, mein Kopf scheint zu explodieren. Ich fahre zur Bülowstraße. Nach einer Stunde Betteln drückt mir einer 'n Filter** ab, den ich mir sofort aufkoche, doch mir geht es kein Stück besser.

Ich laufe die Kurfürstenstaße ab, in der Hoffnung, eine „Freundin“ zu treffen, die anschaffen geht und mich einlädt. Ich habe Glück, Chris ist da, doch sie hat auch kein Geld und muß erst 'n Freier machen. Nach einer Stunde hält endlich einer an und nimmt sie mit. Ich schreibe mir die Autonummer auf. Es ist schon dunkel. Ich warte, warte und warte. Bullen, Nutten, Freier, Dealer und Fixer laufen an mir vorbei, ich hasse diesen Ort. Nach eineinhalb Stunden kommt sie endlich, doch sie hat nur 50 Mark gemacht.

Wir kaufen Dope. Ich gehe mit ihr auf ein Klo, und wir hauen das Pack auf den Löffel und kochen auf. Sie gibt mir nur ein paar Einheiten ab, das mach ich mir weg. Doch ich habe noch immer etwas Turkey und brauche mehr. Chris geht erneut anschaffen, doch einladen will sie mich nicht mehr. Klar, sie braucht das Zeug ja selber dringend. Es ist schon 1 Uhr, und ich stehe mit den anderen Junks am Sex-Kino am U-Bahnhof Kurfürstenstraße. Die arabischen Dealer machen mich an: Wie heißt du? Wie alt bis du? Was nimmst du?

Ich antworte und jammere. Sie tun so, als hätten sie Mitleid mit mir, legen ihre Grabscher um mich, geben mir Küßchen und packen mich an den Arsch. Ich find's widerlich und ekelhaft, mache aber gute Miene zum bösen Spiel, in der Hoffnung, ein kleines Pack geschenkt zu bekommen. Einer drückt mir eins in die Hand. Ich muß ihm dafür einen Kuß geben. Dann fragt er mich, ob ich mit zu ihm nach Hause komme, er würde mir ein halbes Gramm geben. „Nein!“ „Dann verpiß dich!“

Ich gehe, misch mir meinen Druck und bin jetzt todmüde und völlig fertig. Die letzte Bahn ist weg.

Drei Stunden hocke ich noch zwischen den ganzen Leichen rum (ich bin ja selber schon eine) und fahre dann mit der ersten Bahn ins besetzte Haus zurück. Als ich ankomme, ist es schon hell draußen. Ich lege mich in meine Penntüte und schlafe ein, in ein paar Stunden geht's wieder von neuem los. Es kotzt mich an.

** Die beim Heroinspritzen verwendeten Filter enthalten Reste, die wiederaufbereitet werden können. Es gibt eigens dafür Leute, die „Service“ machen, das heißt Filter sammeln und daraus nochmals Stoff, besser gesagt: den letzten Dreck gewinnen.

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