■ Normalzeit: Die Tiefe der Oberfläche
„Unser scharfer Blick durchdringt das kleinste Atom!“ hieß der Refrain eines Liedes, das 1934 auf dem Kongreß der Sowjetschriftsteller das erste Mal vorgetragen wurde. Ich schlage vor, es im dritten Grad zu summen: Nachdem es erst ergreifend klang und dann dämlich, hat man nun die Freiheit, daraus zum Beispiel einen schauen Physiker- oder Stasi-Song zu machen.
Mein scharfer Blick richtet sich im übrigen mehr und mehr auf die kleinste „Bohne“: Auch für die unvermietbarsten neuen Dienstleistungs-Center, und seien sie noch so türkis- oder minzfarben gestrichen, kommt irgendwann die Stunde der Erstnutzung.
Eben noch schöne helle leere Büroräume mit Anthrazit-Auslegeware und High-Tech-Anschlüssen. Der Architekt konnte sich gar nicht genug an ihnen sattsehen. Aber dann kamen die Möbelpacker und mit ihnen all die spießigen Stahlrohrmöbel und kitschigen Niedervoltlampen, und wenig später auch die Soft- und Wetware selbst angewackelt: Da wendeten sich die Developer mit Grausen: Bei den Gummibäumen, die bald die Fenster verdecken, bei den weißen Wänden, die mit Urlaubspostkarten vollgespickt werden und all dem Gerümpel zur Gemütlichkeitssteigerung – wie Ikea-Garderobenständer, Karstadt-Poster, bestickte Kissen, rote Computer-Aufkleber („Hallöchen!“), kopierte Sprüche für die Türen („Hetzen Sie mich nicht, ich bin hier auf Arbeit, nicht auf der Flucht!“) und den komischen Drucksachen auf den Ablageflächen – wie „100 Cartoons zum Faxen“ etwa („Achtung, dies ist eine private Anmache!“).
Überall werden mehr oder weniger neckische Nichtraucher- Schilder von den Gewerkschaften und den Gesundheitskassen angebracht und auf den Toiletten Hinweise wie „Stand up for your Rights but sit down for Pissing“. Die Flure werden mit ausrangierten Wartestühlen und Tischen vollgemüllt, darauf schreiend- bunte Aschenbecher. Diese Ensembles wachsen sich schnell zu echten Rauch- und Kommunikationsecken aus, ganz besonders wenn sie sich in der Nähe der Kaffeeküche oder -ecke befinden. Betriebsklima-Forscher sprechen dabei von einer „Verdichtung profi-sionsfreier Lebensqualität“. Hier wird aber andererseits auch das zur materiellen Gewalt, was von oben immer als „Synergieeffekt“ herbeigebetet wird. Ein magisches Wort, von dem der Wirtschaftswissenschaftler Salm- Schwader behauptet, daß dabei immer jemand beschissen werden soll: kurzfristig meistens über Abteilungs- bzw. Betriebszusammenlegungen die dabei entlassenen Mitarbeiter.
Zurück zur Kaffeeküche, in der die neue bunte Dienstleistungswelt noch stets auf ihr Kerngeschäft, den Pausen-Point, zurückgekommen ist. Im Internet kann man sich zum Beispiel in das Programm der englischen Cambridge University einklicken. Dort gibt es neben vielen auch einen Eingang „Coffee-Pot“. Dabei landet man in der Kaffeeküche der Cambridge-Informatiker, die in einem mehrstöckigen Bürohaus untergebracht sind. Die Kaffeeküche ist im ersten Stock. Dort haben nun die Informatiker eine Videokamera auf die Kaffeemaschine gerichtet, so daß sie jetzt in den oberen Stockwerken über Internet nachkucken können, ob unten schon der Kaffee durchgelaufen ist.
Eine Idee, die man in der taz mit Neid betrachtet, denn dort läuft man oft fünf Stockwerke nach unten zu den zwei Kaffeemaschinen, und dann muß man erst einmal mühsam frischen aufbrühen. So will es die alte Haus- Solidarität, die sich also mit etwas mehr High-Tech elegant aushebeln ließe. Bliebe nur das Problem: Wer brüht dann den Kaffee – wenn jeder nur noch am Bildschirm darauf wartet, daß endlich jemand neuen aufsetzt? Helmut Höge
wird fortgesetzt
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