piwik no script img

■ Hat der Sozialstaat eine Zukunft? (3) Politik und Wirtschaft ruinieren ihn noch schneller, als es ihm ohnehin bestimmt istDie drei Irrtümer über den Sozialstaat

Der deutsche Sozialstaat ist ein ziemlich unbekanntes Wesen. Deswegen ist es schwer, politisch mit ihm umzugehen. Man kann über ihn kaum transparente Entscheidungen treffen, bei denen alle wissen, was da entschieden wird. Über dem Sozialstaat liegt ein dichter Schleier von Irrtümern, Sentimentalitäten und bewußten Lügen. Ihn kann das Publikum, also die große Volksmehrheit der abhängig Arbeitenden, nicht durchschauen. Aber auch die Sozialpolitiker selbst, eine kleine Expertenminderheit in ihren Parteien, überblicken den Sozialstaat nicht richtig.

Das kommt daher, daß sie überzeugt davon sind, sie arbeiteten vor allem für das Soziale, die soziale Gerechtigkeit. Aber sie arbeiten mindestens ebenso für den Staat, der oft andere Interessen als das Soziale hat. Und sie arbeiten für die Interessen der Wirtschaft. Nur darf das in ihrem Wort- und Gedankenschatz nicht vorkommen. Das weise Ressortprinzip verhindert, daß Staat, Soziales und Wirtschaft in einem Zusammenhang gesehen und organisiert werden können. Diesen Zusammenhang nennt man politische Ökonomie.

Ihn können die Ressorts und so auch die Sozialpolitiker nicht leiden – weil sie in ihm nicht denken können. Könnte man diesen Zusammenhang denken und im Staat auch organisieren, brauchte man keine Sozialpolitiker mehr. So aber bleibt die Sozialpolitik in ihrem bürokratischen Gehege dazu verurteilt, sich nur für eine bestimmte Klientel abzurackern, für die Interessen der abhängig Erwerbstätigen. Und weil sie nur diese Klientel sehen dürfen, dürfen die Sozialpolitiker annehmen, sie seien vor allem für den sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit zuständig. Das trübt ihren Blick. Ebenso freilich den Blick der Klienten, der Sozialstaatsinsassen.

Vor allem drei Irrtümer sind es, mit denen die Sozialpolitiker sich und ihren Klienten etwas vormachen – übrigens ein Grund dafür, daß der Sozialstaat heute in allen Schichten so unbeliebt ist.

Irrtum eins: Der Sozialstaat sei eine allgemeine Kassenorganisation, die für eingezahltes Zwangsspargeld Gleichwertiges zurückzuzahlen habe. Diese verwahre ein Vermögen, auf das die Mitglieder entsprechende Ansprüche hätten.

Irrtum zwei: Der Sozialstaat, gebaut um seine stärkste Säule, die Rentenversicherung, beruhe auf einem Generationenvertrag. Der Vertrag verpflichte die jeweils arbeitenden Generationen, für die Alten aufzukommen, die nicht mehr Erwerbsarbeit leisten. Der Sozialstaat sei also auf ein moralisches Solidaritätsverhältnis gegründet – für das der Staat einzustehen habe.

Irrtum drei: Die Hauptaufgabe des Sozialstaates sei es, für eine ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, die im Gruppenkampf des Wirtschaftslebens zu kurz komme.

Zum Irrtum eins verführt die Organisationslogik des Sozialstaats. Es ist die Logik einer nationalen Risikoversicherung, an die Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihren Beitrag nach Maßgabe des Arbeitslohnes entrichten. Dabei sind die Einzahler immer zwangsverpflichtet, der Versicherungsträger Staat aber nur in dem Maß, das ihm die jeweilige Wirtschaftskraft des Landes erlaubt. Oder zu erlauben scheint. Das wird man demnächst erfahren, wenn die Dauerbeschwörung Kohls und Blüms, daß die Renten sicher sind, dementiert werden muß. Schon jetzt ist jedermann klar, daß spätestens in zwei Jahren die Renten vom Erwerbslohn, an den sie mit der überparteilichen „Rentenformel“ von 1987 gekoppelt waren, losgelöst werden müssen – vermutlich von einer großen Koalition. Die Rentenansprüche sind also gerade soviel wert, wie der Wirtschaftsstaat wert ist. Die Versicherten im Sozialstaat bleiben also ans Wirtschaftsschicksal der Nation gebunden. Das wäre auch in Ordnung – hätte man ihnen nicht jahrzehntelang vorgemacht, daß ihre Ansprüche krisenfest bedient werden könnten.

Der Irrtum zwei ist nicht einmal ein Irrtum, sondern nur eine ideologische Parole, um die Alten zu beruhigen und die arbeitenden Jungen unter Druck zu setzen. An diese Fiktion, die nebenbei den Gedanken der Blutsgemeinschaft bestärkt, haben vor allem die Deutschen glauben können. In Frankreich zum Beispiel, dessen Versicherungsprinzip dem deutschen ähnlich ist, käme niemand auf ein blutgestiftetes Solidaritätsband. Dort ist es die Nation, die zur Solidarität verpflichten soll.

Freilich, auch das funktioniert heute nicht mehr recht. Denn die Nation ist ebenso schwach geworden wie die Reproduktionslust der Deutschen. Im nachindustriellen Staat leben die Individuen nicht mehr in einem zwingenden Generationenverhältnis. Wenn ohnehin nicht mehr das ganze arbeitende Volk für seine Zukunft sorgen darf, sondern nur noch eine ständig abnehmende Mehrheit dazu zugelassen ist, läuft die nationale Solidaritäts- und Integrationsmaschine Sozialstaat auf Sand. Der Sozialstaat kann nicht mehr, was er jahrzehntelang vorzüglich geleistet hat: die Arbeits- und Industriegesellschaft zusammenbinden.

Den Irrtum drei, daß der Sozialstaat für Zwecke der sozialen Gerechtigkeit geschaffen worden sei, haben vor allem Parteien und Sozialpolitiker verbreitet. Zwar war er in wohlfahrtsstaatlichen Zeiten auch eine Agentur zur Vermehrung kleiner Gleichheit. Aber der Sozialstaat blieb dabei doch immer, was er heute erst recht sein muß: Aufbewahrer von Ungleichheit. Der Sozialstaat trägt zur Konkurrenz der Arbeitnehmer untereinander bei, und er sorgt für soziale Selektion. So hält er, wenn schon nicht die Gesellschaft, so doch den Staat zusammen.

Wenn Manager-Funktionäre wie Olaf Henkel auf dem Sozialstaat herumhacken, so haben sie nicht begriffen, was sie an ihm haben. Ihre Vorgänger in den 50er Jahren, autoritäre Bosse der Schwerindustrie, die sich mit ebenso autoritären Gewerkschaftsbossen zusammenraufen konnten, wußten das wohl. Sie konnten sich an die Klassenkonflikte erinnern, die ihnen der Sozialstaat vom Halse geschafft hat. Und es war ihnen durchaus recht, daß der Sozialstaat dicht mit der Organisation des Lohnkonflikts und der Tarifautonomie verwoben war. So konnten sie sich auch noch zur Mitbestimmung bequemen.

Nicht zuletzt dank dem Sozialstaat gelang die erfolgreichste Gesellschaftskonstruktion, die den apolitischen Deutschen in diesem Jahrhundert gelungen ist: der überall bewunderte „Rheinische Kapitalismus“. Er ist freilich in der Niederfahrt – und mit ihm der Sozialstaat. Das heutige Personal der politischen Klasse und der Großwirtschaft ist dabei, ihn noch schneller zu ruinieren, als es ihm ohnehin bestimmt ist. Claus Koch

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen