: Darmerkrankungen, Gedächtnisstörungen, Haarausfall. Noch immer ist die breite der Beschwerden, die auf Amalgam im Mund zurückzuführen ist, nicht systematisch untersucht und belegt. Hersteller Degussa zahlte nun 1,2 Millionen Mark für die Ei
Darmerkrankungen, Gedächtnisstörungen, Haarausfall. Noch immer ist die
breite der Beschwerden, die auf Amalgam im Mund zurückzuführen ist, nicht
systematisch untersucht und belegt. Hersteller Degussa zahlte nun 1,2 Millionen
Mark für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen Körperverletzung.
Das Wohl des Patienten dem Profit geopfert
Sigrid Ohlsen * hat keine Amalgamplomben mehr im Mund. Im Frühjahr 1995, als das große Zittern begann, sie keine Treppen mehr laufen konnte, Darmbeschwerden und Haarausfall bekam und unter Gedächtnisstörungen litt, ließ sie alle quecksilberhaltigen Zahnfüllungen entfernen. Das war, nachdem ein Mediziner ihr den weißen Belag auf der Zunge – just dort, wo die Amalgamplombe angrenzte – als Vorstufe zum Zungenkrebs attestierte. Damals fühlte sie sich ziemlich alleingelassen, obwohl sogar ihre Ärztin eine Quecksilbervergiftung durch Amalgam nicht ausschließen wollte. „Aber helfen wollte sie mir nicht“, sagt Sigrid Ohlsen. Die Ärztin habe ihr nur gesagt, Amalgam sei ein heikles Thema.
Sigrid Ohlsen half sich selbst, so gut sie es in ihrem angeschlagenen Zustand konnte. Nach einer erfolglosen Odyssee durch Arztpraxen und eine Klinik begann sie eine ausgiebige Zahnsanierung. Erst heute, ein Jahr später, kommt sie langsam wieder zu sich. Um so entsetzter ist die 38jährige Bremerin über die Entscheidung des Umweltdezernats der Frankfurter Staatsanwaltschaft, seine jahrelangen Ermittlungen gegen den Frankfurter Chemie- und Metallkonzern Degussa nun einzustellen. Sie weiß, daß damit jede Zivilklage auf Schadenersatz so gut wie aussichtslos wird.
„Im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren wegen angeblich schädlicher Wirkungen des von der Degussa ehemals hergestellten Zahnamalgam (...) zeichnet sich eine Lösung ab“ , gab die Degussa mittels Presseerklärung bekannt. Staatsanwaltschaft und Unternehmen seien übereingekommen, daß die Degussa 1,2 Millionen Mark an die Forschungseinrichtung „Münchner Modell“ zur Untersuchung von Amalgamwirkungen zahlen muß. Darüber hinaus sollen drei Beschuldigte im Unternehmen 300.000 Mark an kommunale Einrichtungen überweisen. Mit dieser Einigung zeige die Degussa, „daß man auf Unternehmerseite (...) bereit ist, ,aus sozialen Überlegungen heraus eine vernünftige Lösung zu finden‘“, heißt es im Schreiben der Degussa.
Sigrid Ohlsen hätte sich einen anderen Ausgang der Ermittlungen gewünscht. „Das Quecksilber hat doch nicht nur bei mir giftig gewirkt“, sagt sie. „Alle Betroffenen haben doch damit zu kämpfen, daß wir als Hypochonder abgetan werden, weil es das Krankheitsbild der Amalgamvergifteten nicht gibt.“
Neben der sozialen Rehabilitierung wäre ihr ein Signal gegen den gefährlichen Zahnersatzstoff wichtig gewesen. Zwar haben bei ihr, anders als bei anderen Betroffenen, die Symptome nach dem Auswechseln des quecksilberhaltigen Zahnmetalls nachgelassen – eine Entgiftung bezahlte die Kasse allerdings ebensowenig wie die privaten Gutachten, die belegen, daß Sigrid Ohlsen durch Quecksilber- und Schwermetalle, die höchstwahrscheinlich aus Zahnersatzstoffen stammen, extrem belastet ist. An den Kosten für die Gutachten zahlt Sigrid Ohlsen, arbeitslos und zeitweise arbeitsunfähig aufgrund der Erkrankung, die niemand so recht als Folge des Amalgam anerkennt, noch heute.
Der Frankfurter Umweltstaatsanwalt Erwig Schöndorf kennt Hunderte ähnlicher Fälle. Er weiß, was die Betroffenen mit der Aufnahme des Verfahrens gegen Degussa, die den quecksilberhaltigen Zahnfüllstoff seit 1993 nicht mehr produziert, verbanden. Aber es habe gute Gründe für die bevorstehende Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegeben, sagt der Staatsanwalt.
In einem vergleichbaren Verfahren, beim jahrelangen Prozeß gegen Holzschutzmittelhersteller beispielsweise, habe man die Erfahrung gemacht, daß Verantwortliche in großen Konzernen nur sehr schwer haftbar zu machen seien. „Da binden wir jahrelang unser Personal in einem Verfahren, und am Ende wird ein Abteilungsleiter zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt“, sagt der Staatsanwalt. „Das ist ein Politikum“, dessen Wiederholung im Amalgam-Verfahren gedroht hätte. Angesichts der allgemeinen Verunsicherung der Patienten wäre damit allerdings niemandem geholfen, „auch wenn es eine strafrechtliche Chance zur Verurteilung gegeben hätte“.
Die Fragen, ob und wann es zum Urteil käme und was das mögliche Maß der Verurteilung wäre, beantwortete die Staatsanwaltschaft sich vorab – und entschied auf Verhandlungen mit dem Hersteller. Daß die Degussa nun 1,2 Millionen Mark an das Forschungsprojekt „Münchner Modell“ zahlt, damit das Uni-Institut endlich harte Fakten über die Wirkung des „unstreitig giftigen Amalgam“ und seine Therapie ermittelt, wertet auch Schöndorf als ein „Eingeständnis von Verantwortung“ seitens des Herstellers.
Doch die Arbeit der ForscherInnen soll am Ende mehr bringen als ein Prozeß „mit ungewissem Ausgang“: Die Forschungsergebnisse des „Münchner Modells“ sollen endlich eine wissenschaftliche Beurteilung von Beschwerden und Krankheiten ermöglichen, die durch Amalgam verursacht wurden, hofft Schöndorf. Noch immer sei die Bandbreite der Beschwerden, die auf Amalgam zurückzuführen sind, nicht systematisch untersucht und belegt.
Zur Bewertung einer „Schuld“ des Ex-Amalgamproduzenten Degussa, wie Sigrid Ohlsen es sich gewünscht hätte, kam es wegen der Einstellung der Ermittlungen allerdings nicht. Zwar kamen Gutachter des toxikologischen Instituts der Kieler Universitätsklinik zu dem Ergebnis, daß Amalgamhersteller bewußt gegen die rechtlich gebotene Sorgfaltspflicht zur Schadensbegrenzung verstoßen hätten (vgl. Artikel unten) und empfahlen eine strafrechtliche Würdigung des Verhaltens der Hersteller. Aber dieses Gutachten hält die Frankfurter Staatsanwaltschaft noch unter Verschluß. Eva Rhode
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