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Das Männer-Ritual durchbrechen

Nordirland wählt heute die Kandidaten für die Friedensgespräche am Runden Tisch. Erstmals durchbricht eine Frauenkoalition die starren Männerfronten mit einer interkonfessionellen Liste  ■ Aus Lisburn Ralf Sotscheck

„Viele meinen, wir sind in den vergangenen 27 Jahren gut weggekommen“, sagt Rosalind Chambers, „und das stimmt auch – wenn man niemanden in der Verwandtschaft hatte, der zum Angriffsziel der IRA erklärt worden war, zum Beispiel einen Polizisten oder Soldaten oder Richter. Dann konnte man in Lisburn ganz gut leben.“ Chambers – es ist nicht ihr richtiger Name – ist Ende Vierzig, verheiratet, Hausfrau. Sie sitzt am Market Square vor dem Leinenmuseum auf einer Bank und ruht sich vom Einkaufen aus. Es ist der wärmste Tag im ansonsten kältesten Mai seit fünfzig Jahren. Chambers hat ihre rote Strickjacke in eine der vier Plastiktüten gestopft, die sie unter der Bank verstaut hat. Aus der Hosentasche ihrer Jeans kramt sie eine zerdrückte Packung Silk Cut und ein Feuerzeug, nimmt zwei Zigaretten heraus und reicht eine ihrer Freundin, die neben ihr auf der Bank sitzt.

„Es war aber kein normales Leben“, widerspricht Catherine Bingham, während sie die Zigarette anzündet. „Ich habe mir das zwar auch immer eingeredet, aber nach dem Waffenstillstand im Herbst 1994 merkte ich plötzlich, wie der Druck weg war. Bis dahin hatte ich das verdrängt, genauso wie die IRA-Bombe, die vor zwanzig Jahren die Innenstadt von Lisburn in Schutt und Asche gelegt hat. Zwei Stunden vorher war ich noch einkaufen gewesen. Wenn bei den Wahlen und den anschließenden Gesprächen nichts herauskommt, können wir uns wieder auf so etwas gefaßt machen.“

Nordirland wählt heute ein Forum ohne irgendwelche Befugnisse. Laut britischer Regierung geht es einzig darum, daß die Parteien – allen voran Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, der rund zwölf Prozent der Stimmen gewinnen wird – ihre demokratische Legitimation an der Wahlurne nachweisen und aus den gewählten VertreterInnen die Verhandlungsteams für den Runden Tisch am übernächsten Montag bestimmen. Voraussetzung für Sinn Féins Zulassung ist die Erneuerung des Waffenstillstands, den die IRA im Februar gebrochen hat.

Überraschungen wird es bei den Wahlen nicht geben, schon gar nicht hier in Lisburn. Alle 13 Bezirksräte in den beiden städtischen Wahlkreisen sind probritische Unionisten. Zwei gehören der gemäßigten Alliance Party an, einer der Democratic Unionist Party (DUP) des radikalen Pfaffen Ian Paisley und acht der größten nordirischen Partei, der Ulster Unionist Party (UUP). Hinzu kommen ein unabhängiger Unionist und Gary McMichael, dessen Vater John Weihnachten 1987 von der IRA in die Luft gesprengt worden ist. John McMichael war Vizechef der paramilitärischen Ulster Defence Association, sein Sohn ist nun Vorsitzender des politischen Flügels.

Da in jedem der 18 nordirischen Wahlkreise heute nur fünf Kandidaten gewählt werden, wird McMichael es über die Direktwahl nicht schaffen. Um jedoch auch die politischen Flügel der protestantischen Paramilitärs an den Runden Tisch zu bekommen, hat die britische Regierung eine Sonderregel eingeführt: Zu den 90 Sitzen werden jeweils zwei Sitze an die zehn stärksten nordirischen Parteien vergeben. Man will dadurch verhindern, daß die UDA und die Ulster Volunteer Force (UVF), die im Oktober 1994 einen Waffenstillstand eingegangen sind, wieder zu den Waffen greifen, wenn sie von den Gesprächen ausgeschlossen sind.

„Es waren die Arbeitslosen in der Südstadt, die McMichael gewählt haben“, versichert Chambers. „Lisburn ist eine wohlhabende und saubere Stadt, die nie zum Extremismus geneigt hat.“ Die Kleinstadt mit rund 30.000 Einwohnern liegt knapp 15 Kilometer südlich der nordirischen Hauptstadt Belfast im Lagan-Tal. Lisburn sei „eine der schönsten Binnenstädte Irlands“, hieß es um 1700 in einer englischen Zeitschrift. Das fand wohl auch Louis Crommelin, ein französischer Hugenotte, der 1698 von Wilhelm III. damit beauftragt worden war, der Leinenindustrie in Irland zur Blüte zu verhelfen. Er wählte Lisburn als Standort. Die Leinenindustrie gehört heute der Geschichte an, das Café im Leinenmuseum am Marktplatz ist nach Crommelin benannt. Neben dem Museum steht eine Bronzestatue von General John Nicholson, der 1857 den Angriff auf Delhi angeführt hat und dabei ums Leben gekommen ist. Seine Statue hält in einer Hand ein Schwert, in der anderen eine Pistole.

„Nicholson war ein Protestant, Lisburn war schon damals protestantisch“, sagt Bingham und zeigt quer über den Marktplatz, wo die Railway Street in Richtung Bahnhof abzweigt. „In dem Eckhaus hat Wilhelm von Oranien 1689 zu Mittag gegessen.“ Das Haus ist 1707 bei der großen Feuersbrunst abgebrannt, aber „King Billy“, wie die Protestanten ihren König liebevoll nennen, ist in der britischen Krisenprovinz in zahllosen Wandgemälden gegenwärtig. Er hat 1690 in der Schlacht am Boyne seinen Schwiegervater, den katholischen König Jakob II., besiegt und damit die protestantische Thronfolge in Großbritannien gesichert. Die nordirischen Protestanten feiern den Jahrestag der Schlacht am 12. Juli noch heute mit bombastischen Paraden.

„Billy würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüßte, wie sich die protestantischen Parteien jetzt gegenseitig fertigmachen“, sagt Chambers. Anfang der Woche ist zwischen den unionistischen Parteien ein heftiger Zwist ausgebrochen. Robert McCartney von der Splitterpartei „UK Unionist Party“ warf der UUP vor, sie setze durch ihre Gesprächsbereitschaft die Union aufs Spiel, während Chef Trimble wiederum Paisley vorwarf, er wolle „gar nicht erst an den Verhandlungstisch, um die Union zu verteidigen“. Paisley dagegen freute sich über den „schwachen Trimble“, weil der ihm „jedesmal, wenn er den Mund aufmacht, tausend Wähler in die Arme“ treibe.

„Trimble macht sich in die Hosen“, grinst Nora Jennings, „jetzt hat er extra neue Plakate drucken lassen.“ In der Bow Street, der kurzen Fußgängerzone, die links vom Marktplatz abgeht, hängen hoch oben an den Laternen die UUP- Wahlplakate, auf denen ein zersplitterter Union Jack abgebildet ist. Die 1,17 Millionen Wahlberechtigten müssen sich zwischen 329 KandidatInnen aus 24 verschiedenen Parteien entscheiden – davon elf unionistische Gruppierungen. „Die UUP hat Schiß, daß der Streit im unionistischen Lager den katholischen Sozialdemokraten von der SDLP zugute kommen könnte“, meint Jennings. „Aber die kriegen ja doch wieder um die 26 Prozent. Von den unionistischen Wählern wechselt keiner die Fronten.“

Nora Jennings ist Katholikin. Wegen der Mehrheitsverhältnisse in Lisburn hat sie das Wählen aufgegeben, als sie 1984 mit 18 Jahren aus Belfast weggezogen ist, weil sie einen Job in einem Schuhgeschäft in der Bow Street angeboten bekam. „Diesmal wähle ich die Frauenkoalition“, sagt sie. „Die Parteien haben im vergangenen Vierteljahrhundert bewiesen, daß sie nichts weiter als kämpfende Männerbünde sind, und die Frauen waren so blöd, ihnen den Rücken freizuhalten und sie mit häuslichen Aufgaben zu verschonen. Wenn es jemals Frieden geben soll, dann muß damit Schluß sein. Frauen stellen 52 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung, aber bei den Bezirksverordneten machen sie keine 13 Prozent aus. Und die nordirischen Unterhausabgeordneten sind allesamt Männer.“

Die Women's Coalition ist erst in den vergangenen Wochen von Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen gegründet worden. „Natürlich stimmen sie nicht in allen Punkten überein, das wäre auch ein Wunder“, sagt Jennings. „Aber sie alle wissen, daß Frieden die Grundbedingung für eine Verständigung ist.“ Die Koalition schickt 72 Kandidatinnen ins Rennen. Die Frauen rechnen sich gute Chancen aus, als eine der zehn stärksten Parteien zwei der Sondermandate zu gewinnen und am Runden Tisch Platz zu nehmen.

„Es wäre ja schon ein Riesenschritt“, sagt Jennings, „wenn die Frauen dafür sorgen könnten, daß nicht alle naslang eine Partei aus dem Saal stürmt, wenn ihr etwas nicht paßt. Keiner erwartet doch, daß sich plötzlich alle die Hände reichen und die britische Armee nach Hause geht. Die werde ich noch eine ganze Weile vor meiner Haustür haben.“ Jennings wohnt am nordwestlichen Stadtrand. Nicht weit von ihrer Wohnung liegen die Thiepval Barracks – früher ein Außenposten, wo verdiente Offiziere eine ruhige Kugel schieben und sich auf das Rentnerdasein vorbereiten konnten. „Hier konnte man schießen, fischen, jagen, Golf und jede andere ländliche Sportart genießen oder sich dem vielfältigen gesellschaftlichen Leben widmen“, schrieb Desmond Hamill, der seine Armeekarriere im Devonshire Regiment begann und inzwischen als Fernsehjournalist arbeitet. Die Kaserne der 39. Brigade, die allein für Belfast zuständig ist, ist seit Ausbruch des Konflikts 1969 hoch gesichert. Nebenan liegt das Hauptquartier der britischen Armee für den Rest Nordirlands, und auch die RUC- Polizei, die zu 93 Prozent aus Protestanten besteht, hat in Lisburn ihre Hauptverwaltung.

Rosalind Chambers ist mit einem RUC-Beamten verheiratet. Deshalb will sie nicht ihren richtigen Namen nennen, das Mißtrauen in die Waffenruhe sitzt tief. Inzwischen ist sie mit ihren Plastiktüten auf dem Weg zu einem der elf Parkhäuser, die südlich der Einkaufsmeile um die Bow Street liegen. „Ich traue Major nicht über den Weg“, sagt sie zum Abschied. „Wenn es nach ihm ginge, hätte er uns doch schon längst an die Republik Irland ausgeliefert. Man muß ihn ja bloß reden hören: Nach dem Waffenstillstand hat ihm die englische Kommission für einfache Sprache die Goldene Rhabarbertrophäe verliehen – für seinen nordirischen Friedensplan. Ein Satz darin ist 121 Wörter lang, die Durchschnittslänge liegt bei 35 Wörtern. Das zeigt doch, daß der Mann etwas zu verbergen hat.“

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