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Mit Dynamit und Erbsensuppe

■ Kraftwerk Tiefstack: Das industriearchitektonische Denkmal wurde gestern gesprengt

Fast durchsichtiger Rauch entweicht dem Schornstein des stillgelegten Heizkraftwerks Tiefstack. 2000 Zuschauer am anderen Ufer der Billwerder Bucht wissen: Der Sprengmeister hat das Signal gegeben. Sekunden später kippt der 75 Meter hohe Schlot beinahe lautlos zur Seite.

Im Zeitlupentempo wird die Explosion drei weitere Male wiederholt: Nie sacken die roten Backstein-Schornsteine einfach plump in sich zusammen. Kerzengerade neigen sie sich zur Seite, bis das Dynamit sie rechtzeitig vor dem Aufprall auf die Erde in eine riesige Staubwolke verwandelt.

Ganze zwei Minuten dauerte gestern das Spektakel in Rothenburgs-ort. Seit 14.32 Uhr existieren die vier imposanten Schornsteine aus 2500 Tonnen Stein nur noch auf Videofilmen und Fotos und in den Köpfen vieler Beschäftigter der Hamburgischen Electricitätswerke (HEW): Jahrzehntelang war die Kraftwerks-Silhouette offizielles Emblem des Energieversorgungsunternehmens; die rauchenden Schornsteine – Rest des 1917 eingeweihten und 1993 stillgelegten ersten HEW-„Großkraftwerkes“ – Sinnbild für Fortschritt und Wirtschaftskraft.

Doch für den Erhalt des industriearchitektonischen Kulturdenkmals Tiefstack, ausgestattet mit Technik aus den 30er und 50er Jahren, fehlte das Geld. Unmittelbar neben den gestern in die Luft gejagten Schornsteinen ging bereits 1993 als Nachfolger das neue Kraftwerk Tiefstack als modernstes Kohleheizkraftwerk Europas in Betrieb.

„Die eigentliche Schönheit der Türme“, plaudert ein Rentner, der die Zerstörung alter Arbeitergeschichte und das Volksfest nebenan mit Bier, Eis, Musik-Kapelle und Erbsensuppe bei 30 Grad im Schatten „für meine Enkel“ filmt, „ist ja schon lange weg.“ „So um 1940 rum“ kürzten die HEW die ursprünglich 100 Meter hohen Schornsteine um ein Viertel ihrer Länge: „Man wollte den feindlichen Bombern die Orientierung nehmen“, erinnert sich der Mann. „Getroffen haben sie trotzdem.“

Auf dem Gelände der Schornsteine soll jetzt moderne Industriegeschichte geschrieben werden: Schon in zwei Jahren werden zwei Silos für je 40.000 Tonnen Kohle fertig sein. Diese 42 Meter hohen Betonzylinder mit einem Durchmesser von 50 Metern sollen die größten Anlagen dieser Art in Deutschland sein. Dort wird die Kohle zur Stromerzeugung auch nicht mehr gebaggert, sondern vollautomatisch mit Bandanlagen hinein- und hinausbefördert.

Heike Haarhoff

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