■ Nebensachen aus Moskau: Im Paradies der Jäger und Sammler
Ungeduld wächst, die Vorfreude macht rasend. Präsidentschaftswahlen stehen ins Haus, die Schlacht um die Bürgergunst läßt es an Spannung nicht mangeln. Selbst die Brathühner auf dem Markt sind politisiert: Fragt ein Nackedeichen den Nachbarn: „Wen würdest du wählen“? – „Die Kommunisten!“ – „Wie bitte“? – „Na, gefällt es dir etwa, wo wir jetzt überall rumliegen, auf dem Markt, dem Bahnhof und wer weiß wo? Früher zeigte man uns nur im ZK!“ Die Polarisierung in diesen Tagen kennt keine Scham. Für den Chronisten mit begrenzter Haftung und Aufenthaltserlaubnis sieht es nüchterner aus. Ihn beherrscht nur Eigeninteresse: Reduktion von Komplexität. Das schafft nur eine Partei.
„Sowjetische Mastviehzucht offenbart ihre Überlegenheit“ – „Genosse Iwanowitsch aus Orel: Wir danken dem Generalsekretär für Rekordernte“, so Seite 1 der Prawda, während ein führungsferneres Blatt titelt: „Dekadenter Westen am Ende seiner Weisheit, Mißtrauen gegenüber werktätiger Mastviehzucht...“ Der Sonnabend ist wieder Sonnabend und der Sonntag wird geheiligt. Das Wochenende beginnt am Donnerstag, Dienstag Arbeitsauftakt. Bald ist es soweit, die Rückkehr ins Paradies dauert höchstens noch einen Monat!
Überhaupt der Sonnabend avanciert zum Tag der primären Reproduktion, ein anthropologischer Feiertag sozusagen, gewidmet dem Gedenken an die Evolution des Menschen, aus der dieser Teil der Welt sich verabschiedet: Hier hält man das Erbe der Vorfahren, der Jäger und Sammler, in ehrwürdiger Achtung. Mir hat die Pirsch immer Spaß bereitet, leider nie im Kreise des ZK auf Bären und Füchse, so doch nach Beeren und Büchsen. Und erst das Frettieren, um in der Waidmannssprache zu bleiben, aufspüren, was sich unterm Ladentisch versteckt. Auch Ködern hat seinen Reiz. Für die Echtheit des vormals Lebendigen zeugt der Fäulnisgeruch in der Auslage. Welches Fest, ließ sich etwas auftreiben! Tomaten, die Tomaten ähnelten, eine Flasche Peperonischnaps, geschätztes Beutegut. Die Zeiten versprechen fröhlich zu werden. Kleinstverdiener auf Valutabasis sind wieder wer, sie müssen nicht jedesmal vom Hochsitz klettern, schicken ihre Saupacker: Großmütter, die von Schlange zu Schlange hecheln, einen Platz okkupieren, reservieren, um im einzigen Moment zuzuschnappen. Omas gibt's wieder kostengünstiger. Die Plage mit der Emanzipation nimmt ohnehin ein Ende. Zwei Strumpfhosen, ein Lippenstift öffnen wieder Herzen.
Bleibt zu hoffen, daß die neue Spitze Versäumtes nachholt. Seit dem 26. Mai 1976 wartet eine Geheimresolution des ZK auf ihre Implementierung: „Über die Einführung von Fisch- und Gemüsetagen in das System der allgemeinen Ernährung“. Durch erhöhten Fischkonsum sollten Werktätige in die lichte Zukunft phosphoriszieren. 515.000 Tonnen Fleisch mußten damals für 351 Millionen Valutarubel importiert werden. Im zweiten Anlauf nun wollen sie ohne auskommen. Klaus-Helge Donath
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