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Der letzte Deutsche

■ Nach dem Abflug des Archaismus Kohler wird der Begriff "deutsche Drecksarbeit" umdefiniert: Babbel übernimmt

Manchester (taz) – In Old Trafford hatte just ein unangenehmes Lüftchen zu blasen begonnen, als der Kapitän zu Boden ging – und für diesmal nicht mehr aufstand. Zehn Minuten waren da gespielt, weitere zehn verbrachte er liegend am Spielfeldrand, dann brachte man ihn weg. Und Berti Vogts war klar: „Wenn ein Jürgen Kohler vom Platz geht, hat er was.“ Gestern, 7.15 Uhr ist Kohler von Stockport aus davongeflogen. Das Innenband am rechten Knie ist ab, der Patient für die nächsten fünf, sechs Wochen krank geschrieben.

Erwischt hat es Kohler sozusagen in Ausübung seiner ureigenen Dienstpflichten. „Es war ein Duell mit Kuka. Ich grätschte, schoß den Ball weg.“ Nur daß es in diesem Fall Kohler selbst erwischte, weil Kuka ihm, balancelos durch die vom Attackierenden aufgezwungene Dynamik, „völlig ohne Absicht“ (Kohler) aufs Knie trat.

So sind die Deutschen kohlerlos geworden. Und wo Kohler nicht mehr ist, da ist nun Schmerz. „Es wäre traurig“, sagt sein Dortmunder Kollege Matthias Sammer, „wenn das das letzte Länderspiel von Jürgen gewesen sein sollte.“ Nachdem es nach seiner Rückkehr aus Turin lange Zeit so schien, als nutze der einst Unverzichtbare der Elf nicht mehr, hatte sich in den letzten Wochen im Team die Meinung durchgesetzt, daß Kohler wieder Kohler sei.

Kohler selbst hat gesagt, er sei „der letzte Fußball-Ritter“, und hat damit das verklärte Bild vom Rittertum treffend relativiert. Seine Existenzberechtigung hat er aus der Annahme abgeleitet, daß irgendwer die „Drecksarbeit“ machen müsse. Man brauchte ihn auch gar nicht zu drängen: Kohler gab bereitwillig den klassischen Deutschen ab, wie ihn die Welt fürchtet und Berti Vogts liebt. Mitleidlos in der sogenannten Sache, aber sonst ein lieber Kerl. In einem Mannheimer Arbeiterviertel als Halbwaise von der Mutter aufgezogen unter dem Motto: „Fleiß, Anstand und Sparsamkeit“. Er selbst entwickelte daraus die Maxime: „Das will ich, das kann ich, das mache ich.“ Bei seinem ersten Klub Waldhof hatte er sich selbst beworben. Anhand seines fußballerischen Aufstiegs und der Lektüre von Comics und Konsalik entwickelte er einen offenbar vorstoppertypischen Patriotismus. Für Kohler ist es vermutlich tatsächlich eine Ehre, „für Deutschland zu spielen.“ Als er wegen Klinsmanns Sperre nun den Kapitän mimen durfte, verstieg er sich in der Mannschaftssitzung gar dazu, sich mit einigen flammenden Worten an seine Kameraden zu wenden.

Nun sitzt er zu Hause, und man wirft ihm mächtig Blumen aufs Grab. Oder doch nicht? Berti Vogts will „nach der EM in aller Ruhe mit ihm reden“. Kohler selbst will sich erst einmal „keine Gedanken machen, ob ich sage, okay, das war's.“ Andererseits ist er 31, und die erneute Verletzung mag ihm sagen, daß es besser ist, den Abschied in Ehren zu wählen, als den von Matthäus.

Braucht man Kohler heute noch? Oder auch nur einen wie Kohler? Nur in der derzeitigen „Topform“ (Vogts) war der Archaismus ins Team zu integrieren. Nun wird der Begriff „Drecksarbeit“ früher als erwartet umdefiniert. Und dafür zuständig ist Markus Babbel (23). „Ja, gut“, sagte der, „für Jürgen ist es schade.“ Und er sieht sich wieder einmal in seiner Meinung bestätigt, „wie schnelllebig der Fußball“ sei. Im Münchener medialen Stellungskrieg erprobt, hat er klug eine Rolle als freundlicher, kluger Nichtssager gewählt. „Gott, es ist halt passiert“, sagt er, „und meine Chance ist es jetzt.“

Babbel ist eigentlich der ideale Teamspieler der 90er: Nicht genial, aber effektiv, dabei vielseitig und genau wissend, wie außerhalb des Feldes welcher Hase läuft. Babbel ist bayerischer Unternehmer, der auch nationale Geschäfte erledigt. Es gibt keinen Zweifel, daß er es auch außerhalb des Spielfeldes zu „etwas“ gebracht hätte.

Kohler, der einst eine Mechanikerlehre abbrach, konnte nur im Beruf des Manndeckers reüssieren, weil dessen Stellenbeschreiung wie maßgeschneidert für ihn war. Ihn hat man immer als Nationalspieler definiert. Und er daher sich. Insofern war er der letzte Uwe Seeler. So muß man auch seinen Abgang verstehen. Den Kopf leicht schräg, das Lächeln auch, sagt er, er wolle „in fünf Wochen wieder gegen die Kugel treten“. Dann humpelte er davon. Sein Dortmunder Chef Matthias Sammer hat dann die Epitaph-Schrift formuliert: „Es darf nicht sein letztes Länderspiel gewesen sein.“ Doch die Aussicht auf ein 85. (Abschieds-) Ländersspiel irgendwann und Sammers schwarzrotgoldene Sandalen konnten nicht darüber hinwegtäuschen: Der letzte Deutsche ist gegangen. Peter Unfried

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