: „Ein bloßer Appell zum Sparen reicht nicht“
■ Der FU-Professor Peter Grottian über die Probleme praktischer Solidarität
taz: In Berlin sollen Tausende von Lehrern freiwillig auf Stunden und Gehalt verzichten, um Kolleginnen und Kollegen vor der Arbeitslosigkeit zu bewahren. Ist der Mensch so edel, daß das klappt?
Peter Grottian: Die Berliner Offensive ist ein sehr individualisiertes Modell. Hier wird konkrete Solidarität eingefordert, ohne daß eine eigene Betroffenheit vorhanden ist. Das unterscheidet den Berliner Versuch von der Arbeitszeitreduzierung bei VW und dem Modell der Lehrer in Brandenburg, wo jeder Lehrer selbst bedroht war. Der Berliner Versuch geht darüber hinaus. Damit ist er auch ein Testfall dafür, inwieweit kollektivere Arbeitszeit- und Einkommensumverteilungen buchstäblich Schule machen könnten.
Die Resonanz bei den Berliner Lehrern scheint aber eher mager zu sein. Das steht im Gegensatz zu früheren Umfragen, auch von Ihnen, denen zufolge in der Bevölkerung eine große Bereitschaft zur Solidarität vorhanden ist.
Meine These lautete, daß an einer solidarischen Umverteilung mehr Leute interessiert sind als nur ein oder zwei Prozent. Die Solidarität fängt aber immer dann an zu wackeln, wenn es ans eigene Portemonnaie geht. In Einstellungsuntersuchungen läßt sich immer gut sagen, daß man bereit ist zu verzichten. Doch wenn man dann aufs eigene Girokonto guckt, wackeln immer ein bißchen die Knie.
Aber Lehrer verdienen doch ganz gut. Außerdem haben sie einen relativ sicheren Job.
Der normale Lehrer oder die normale Lehrerin, unabhängig von der konkreten Lebenssituation, wird einen Verlust von 150 Mark im Monat in der Regel verkraften können. Bei 30 bis 40 Prozent der Lehrer sind die Lebensverhältnisse so, daß sie das könnten. Bleibt die spannende Frage, warum das nicht passiert. Da würde ich sagen, der Wunsch, einen bestimmten Lebensstandard zu leben, ist relativ groß.
Daran ist nicht zu rütteln?
Wenn es konkret wird, fragen sich eben doch viele: Warum soll gerade ich verzichten? Und kann ich in meiner Schule wirklich sehen, daß mein Verzicht zu einer solidarischen Umverteilung, zu einem neuen Arbeitsplatz führt?
Heißt das, die Wirkung von Solidarität muß noch spürbarer sein?
Bei dem Berliner Versuch scheint das Problem darin zu liegen, daß alles in einem großen Topf zusammengerührt wird. Der einzelne Lehrer kann nicht genau sehen, wo die Solidarität wirklich etwas Neues, etwas Produktives schafft. Genau das wäre aber notwendig. Wenn man zur Solidarität aufgefordert wird, muß man an den Schulen absehen können, daß die Kollegen und Kolleginnen, die gut sind und geschätzt werden, am Ende auch den Arbeitsplatz bekommen. Ich glaube, daß der bloße Appell zum Sparen weder die Bereitschaft weckt noch die Phantasie anregt.
Im Westen gibt es schon recht viele Teilzeitlehrer. Wieviel Solidarität kann man von den Ostkollegen fordern?
Das Potential muß in der Tat vor allem im Osten erschlossen werden. Dort aber ist die Verunsicherung groß. Ich glaube nicht, daß sich da viele melden werden.
Falls der Appell an die freiwillige Solidarität nur wenig bringt, was bleibt dann noch?
Es ist möglich, daß dieser Initiative nur ein relativ kleiner Erfolg beschieden sein wird. Ich bin der Meinung, daß in Richtung Arbeits- und Einkommensumverteilung mehr Druck ausgeübt werden muß. Die Überlebensfähigkeit von Institutionen hängt ganz wesentlich davon ab, jüngeren Leuten den Zugang zu ihnen zu eröffnen. Es hat keinen Zweck, in Universitäten und Schulen nur noch Lehrer zu haben, die über 40 Jahre alt sind. Interview: Barbara Dribbusch
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