piwik no script img

Am liebsten gleich nach New York

Aus einer Psychiatrie in Thüringen will das Diakonische Werk möglichst viele BewohnerInnen in ein selbständiges Leben entlassen – doch noch sind die alten Methoden allgegenwärtig  ■ Aus Behringen Constanze v. Bullion

Fußtritte krachen dumpf gegen morsches Holz. Das kleine Kontrollfenster in der Zimmertür klirrt. Dahinter liegt Jens W. auf dem nackten Boden. Neben Polstern aus blauem Knautschlack und einem Bett mit verschmierter Gummiunterlage. Es stinkt. Einen Stock tiefer ahnt man von all dem nichts. Helmut D. springt eilig vom Frühstückstisch auf. Minuten später sitzt er mit frischgebügelter Hose und elegantem Sommerhemd im Bus zur Arbeit. Ein ganz normaler Mittwochmorgen im thüringischen Behringen. 1993 hat das Diakonische Werk hier ein „Psychiatrisches Pflegeheim“ übernommen. Unter seinem Dach wohnen alte Strukturen und neue Ideen eng beieinander.

130 PatientInnen waren zu DDR-Zeiten in dem düsteren Schloß aus dem 15. Jahrhundert eingesperrt. Zwischen holzgetäfelten Treppenhäusern, vergilbten Tapeten und bleichen Kunstblumen lebten Altersverwirrte und Behinderte, Menschen mit Psychosen und Alkoholiker, zufällig zusammengewürfelt. Vollgedröhnt mit Psychopharmaka dämmerte hier vor sich hin, wer auf der Straße unerwünscht war. Nach Jahrzehnten der Apathie müssen die BewohnerInnen jetzt das ABC des selbstbestimmten Lebens lernen: Enthospitalisierung ist das Zauberwort.

Helmut D. fährt mit dem Bus in die Werkstatt

„Patienten“ allerdings heißen die Behringer seit der Wende nicht mehr. Die Menschen, die im Durchschnitt 14 Jahre hier sind, nennt Bereichsleiter Carsten Kral „Bewohner“. Hinter der Sprachregelung steckt ein mühsamer Umdenkprozeß – der MitarbeiterInnen. Als „Riesenerfolg“ gilt schon, daß sie ihre weißen Kittel ausgezogen haben und nicht mehr von Extrageschirr essen.

Entflechtung ist geplant: Menschen mit grundverschiedenen Problemen müssen auch grundverschieden therapiert werden. In die Gemeinde will man sie integrieren. Sie sollen, so die Diakonie, „ein ihrer Würde, ihren Bedürfnissen und ihrer Individualität angemessenes Leben führen“. Für Helmut D. heißt das: jeden Morgen aufstehen und arbeiten gehen. „Schöne Arbeit, nicht schwer“, sagt der breitschultrige Mann mit dem warmen Blick und dem grauen Stoppelbart. Ganz leicht ist es nicht, die kehligen Sätze zu verstehen, die er einmal und noch mal und immer lauter wiederholt, bis sie endlich verstanden werden. 25 Jahre Betäubung haben ihre Spuren hinterlassen.

Helmut D. arbeitet bei der Montage der Behindertenwerkstatt Bad Langensalza. Jeden Morgen wird er in einem Kleinbus hierhergebracht. Und in den hellen Räumen des 9,9-Millionen-Baus, wo 120 Leute schreinern, nähen oder Dübel verpacken, macht der 49jährige erste Schritte ins Berufsleben. Nimmt gebogene Metallstreifen aus blauen Plastikkisten, schiebt sie zusammen, steckt Schrauben durch gestanzte Löcher und zieht sie mit surrendem Elektroschraubenzieher fest.

Beschützte Werkstatt hin oder her – hier wird marktgerecht produziert. „Nicht einschlafen!“ ruft Gruppenleiter Gerald Kolbe durch die Tischreihen, wo ab 11 Uhr kräftig gegähnt wird. Wenn es Helmut D. zu öde wird an der Werkbank oder das Auge wieder zuckt und juckt, gibt es Pausen zum Turnen, Basteln oder Schwimmen. 120 Mark bekommt er für den Job – theoretisch. Denn das Geld wird mit der Sozialhilfe verrechnet. Als Taschengeld teilt man ihm im Heim 50 Mark die Woche zu.

Warum Helmut D. ins Heim kam? „Weil ich meinen Vater gedrückt habe, gedrückt auch am Hals. Aber es war nur gut gemeint.“ Abgeliefert hat man ihn. In Behringen. Mit 24 Jahren. Eine Lehre beim Traktorenbau Gotha hatte er damals schon absolviert, anderthalb Jahre gearbeitet. „Der war früher ganz normal“, erzählt Jörg Windolf, Fertigungsleiter der Werkstatt, über den Schützling, der manchmal kleine Texte schreibt und sich fremde Städte anschaut.

Windolf vermutet bei D. „eine schleichende psychische Krankheit“, Heimleiter Kral spricht von „seelischer Behinderung“. Helmut D. sagt, er sei „wegen Schizophrenie“ eingewiesen worden, „aber ich habe keine Krankheit, ich bin gesund“. In der aktuellen Personalakte findet sich schließlich gar keine Diagnose. Ein Zufall?

Die Werkstatt von Bad Langensalza soll Helmut D. bald verlassen. In einer betreuten Wohnung in Eisenach wird er wohnen, „da ist mehr los, Kino und fortgehen“. Er wird lernen, mit Finanzen, Freizeit und Freiheit umzugehen. Und in einer Werkstatt für psychisch Kranke „Uhren bauen“ – die Handbewegung läßt auf Turmuhren schließen – „zusammen mit Harald“. Daß sein Freund am Nachbartisch nicht mitkommen wird nach Eisenach, erzählt Bereichsleiter Kral erst später. Enthospitalisierung, Abschied von alten Strukturen, heißt auch Trennung. Aber das will man Helmut D. und Harald K. „erst noch vermitteln“.

Harald K. ist hier everybody's darling. Der kleine Mann mit den himmelblauen Äuglein und dem kugelrunden Bauch, über den sich breite Hosenträger spannen, schäkert vergnügt und bestellt Fotos „für meine Freunde“. Harald K. ist mit Down-Syndrom geboren, früher hieß das „mongoloid“. Kein Grund, sein Leben im Heim zu verbringen – eigentlich.

Harald K. singt und swingt und läßt sich beklatschen

Volker Haase will sich zu solchen Fragen nicht äußern. Seit 25 Jahren zeichnet der Psychiater verantwortlich für die „Patienten“ aus Behringen – und verarztet noch heute die Psychofälle der Region. Für den atemlosen Mann mit den abgerissenen Sätzen sind die Neuerungen der Wende „noch ungewohnt“. Daß in Behringen „echte Geisteskranke“ sitzen, sich „an der Behandlung gar nichts ändert“, sagt er. Wenig hält er auch von Ausflügen ins Dorf: „Man macht sich was vor mit dieser Integration. Wo eine Klapsmühle steht, will doch keiner hinziehen.“

BetreuerInnen kennen die Sprüche. Daß Haase „selbst eine Macke“ habe, heißt es. „Zu DDR- Zeiten“, erinnert sich eine Angestellte, „ist der monatelang nicht bei den Kranken erschienen.“ Jetzt schaut er alle drei Wochen in Behringen vorbei. Der Neurologe – einziger mit Kassenzulassung weit und breit – halte an einer „stark konservativen medikamentösen Behandlung“ fest, wissen andere. Die Leiterin eines nahen Heims kennt die Misere: „Da muß Konkurrenz her.“ Daß die Diakonie mit den DDR-Psychiatrien „viele ungedeckte Schecks“ und „große kollegiale Probleme“ übernommen hat, gibt auch Horst Steinhilber, Psychiatriereferent des Diakonischen Werkes, zu. Doch in Stuttgart drückt man vorerst die Augen zu. Neue Ärzte sind nicht in Sicht. Neue Patienten werden trotzdem aufgenommen.

Aus den lichtdurchfluteten Werkstätten kehrt Helmut D. jeden Nachmittag zurück ins düstere Schloß. Immerhin: Seit man für 48 ältere BewohnerInnen am Ortsrand zwei neue Häuser gebaut hat, wurden die großen Schlafsäle in Doppel- und Einzelzimmer aufgeteilt. 1997 soll die heruntergekommene Gruselburg, wo sich 31 Patienten fünf Toiletten, sieben kalkverschorfte Waschbecken, zwei Badewannen und zwei Duschen teilen, geräumt werden.

„613“ heißt inzwischen der Geheimcode zum Leben von Helmut D. Die Nummer, die auf gelben Klebstreifen neben seinem Namen an der Zimmertür steht, repräsentiert ein kostbares Gut: Privatleben. Auf 15 Quadratmetern drängen sich Bett, Schrank, Fernseher und ein Tisch mit Postkarten von den Eltern – ein bescheidenes Reich. Die wahren Schätze liegen verschlossen im Schrank: Stapel von Kassetten, Videos. Und die neue CD mit „Kuschelrock“. „Musik ist meine Welt“, schwärmt Helmut D., der schon zu DDR-Zeiten „immer am Radio“ saß.

Wie es wäre mit einem Sexvideo? Viel Ablenkung gibt es wohl nicht an diesem Mittwochnachmittag in Behringen. Bei der Musiktherapie nebenan, wo begeistert Kinderlieder gesungen werden, hat Harald K. ein großes Solo mit hölzernem Mikrofon. Singt und swingt und läßt sich beklatschen. Helmut D. bleibt im Zimmer. Das, meint er, sei ihm „zu blöd“. „Bay Watch“ schaut er dann an auf Sat.1. Die Videos später. Und allein.

Wie ist das mit der Liebe in der Psychiatrie? Mit Sex, Verhütung, Schwangerschaft? Helmut D. hat noch nie eine Frau geküßt, „kein bißchen“, im Heim nicht und „in der Jugend auch nicht“. Harald K. hat's da leichter. Er ist mit Diana H. zusammen. Keine Sekunde weicht die Frau mit den teichgrünen Augen und dem großen Schlüssel um den Hals von „meinem Harald“. Und weil keine Kinder kommen sollen, nimmt sie die Pille. „Früher“, weiß der Heimleiter Kral, waren solche Paare undenkbar.

Und Jens W. ist immer noch eingesperrt

Sind sie für immer verflogen, die Schatten der Vergangenheit? Endgültig Geschichte, das nationalsozialistische „Gesetz zur Verhütung von erbkrankem Nachwuchs“, aus dem die psychiatrischen Zwangssterilisationen in der DDR und der alten Bundesrepublik wurden?

Wer über die steile Wendeltreppe ins Obergeschoß des Schlosses klettert, den überfallen Zweifel an allen Fortschrittsparolen. Da tritt Jens W. noch immer gegen die Tür seines Zimmers. Verstört, vernachlässigt, vergessen? Das Gespräch mit den Betreuerinnen zeigt erst das wahre Dilemma: Hier will man helfen und weiß nicht wie. Was tun mit dem jungen Mann, der Müll und Kippen ißt, sobald er sein Zimmer verläßt? Der viermal am Tag gewaschen werden muß, eine Einzelbetreuung brauchte, aber keine bekommt, weil dafür das Geld fehlt? Zuschauen? Mit Pillen „ruhigstellen“? Wegsperren? In Behringen hat man sich offenbar für letzteres entschieden. Und in jeder Psychiatrie der alten Länder wäre das vermutlich nicht anders.

„Angst, daß was passiert, hat man eigentlich immer“, sagt Betreuerin Steffi Kurth, die hier mit Susanne Schaffel 31 Bewohner versorgt und eben das Abendessen vorbereitet. Messer und Gabel für die einen, geschmierte Brote für die anderen, Pillen für alle. Lieber heute als morgen würde Helmut D. das Zeug absetzen, „das macht die Beine schwer“. Nächste Woche will er mit dem Doktor sprechen. Und dann nach Berlin fahren. Oder am liebsten gleich nach New York.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen