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Abführtag im Zuhause

■ Eine ganz normale Nachtwache in einem ganz normalen Hamburger Altenpflegeheim Von Christoph Ruf und Patricia Faller

Im gelben Nachthemd schleicht Frieda Seeberg* über den schwach beleuchteten Flur. „Ich will nach Hause“, murmelt die 87jährige unaufhörlich. Das Zimmer 312 in dem Altenpflegeheim in den Elbvororten seit mehr als drei Jahren ihr „Zuhause“ ist, wird sie wohl nicht mehr begreifen. Ich eile an ihr vorbei zum Dienstzimmer.

20 Uhr, Schichtwechsel: „Bei Herrn Zabel* haben wir gerade noch mal das Bett bezogen – Magen-Darm-Grippe“, sagt Schwester Gerda*, als sie mich über die „besonderen Vorkommnisse“ des Tages informiert. „Deshalb konnte ich die Tabletten für morgen nicht vorbereiten. Könntest Du das übernehmen? Ach ja, und heute ist Abführtag, viel Spaß!“ Als sie sich verabschiedet, beginnt meine Elf-Stunden-Nachtschicht – allein mit 28 alten Menschen.

„Abführtag“, wie ich dieses Wort hasse. Mit Abführtropfen wird nachgeholfen, wenn das mit der Verdauung bei den alten Menschen – Durchschnittsalter 85 Jahre – nicht mehr so richtig klappt. Das heißt, stündlich fünf Windelhosen zu kontrollieren, will ich nicht pro Nacht mehrere Betten komplett neu beziehen. Hinzu kommen 24 HeimbewohnerInnen mit Inkontinenz, nach denen ich alle zwei Stunden schauen muß.

Erna Rosemann* klagt über unerträgliche Schmerzen, als ich ihre Medizin vorbeibringe. Die Zeit, die krebskranke Frau zu trösten, habe ich nicht. Statt dessen verweise ich auf das Morphiumpräparat, das sie eine Stunde später erhalten wird. Bis dahin muß ich noch fünf Windelhosen wechseln.

  War die personelle Aus- stattung in den Heimen bisher schon nicht gerade üppig, fürchten die BetreiberInnen durch die Pflegeversicherung weitere Verschlechterungen. Denn die neuen Pflegestufen sind in der Regel niedriger als die alten. Aber es gibt keinen neuen Stellenschlüssel. „Wer soll die alten Menschen pflegen, wenn der Bedarf zwar gleich bleibt, die Personalbemessung aber niedriger angesetzt wird“, fragt sich Hartmut Sauer, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Hamburg und Vorsitzender der Hamburgischen Pflegegesellschaft, ein Zusammenschluß der Pflegeanbieter. Hinzu kommt, daß der Hamburger Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die HeimbewohnerInnen im Bundesvergleich restriktiver eingruppiert: Ein Drittel gilt als nicht pflegebedürftig, nur 15,4 Prozent als schwerstpflegebedürftig.

Dazu gehört auch Ilse Zemski*. Als ich an ihr Bett trete, rieche ich das Übel bereits. Jetzt brauche ich eine neue Windelhose, Waschschüssel und Wundcreme. Nach der Reinigung muß die Haut eingecremt werden: Sie ist dünn wie Pergamentpapier, und weil sie bei dem vielen Liegen leicht reißen kann – man spricht dann von „Decubitus“, vulgo „Druckstelle“, die sich schnell bis auf den Knochen vertieft – wird Ilse Zemski alle zwei Stunden umgebettet.

Es ist Mitternacht, als ich die erste Pause mache – nicht lange. Ein Notruf: Frieda Seeberg liegt im Bett von Elfriede Zink*. „Ich brauche meinen Schlaf“, zischt die Bedrängte. Mein Werben um Verständnis für die verwirrte alte Frau trifft auf taube Ohren: „Diese Verrückte gehört nach Ochsenzoll“, flucht Elfriede Zink.

 „Daß Menschen sich nicht mehr richtig orientieren können, wird nach den neuen Richtlinien für Pflegebedürftigkeit nur ungenügend berücksichtigt“, erklärt Hartmut Sauer. Streng genommen könnten sie sich noch alleine waschen und anziehen. Der Geschäftsführer der Diakonie fürchtet auch um die Selbstbestimmung der alten Menschen: „Wegen der Maxime,ambulant geht vor stationär', aber nur solange die Pflege zuhause nicht teurer wird, wird der MDK Empfehlungen abgeben, wer ins Heim soll und wer nicht.“

Der Pflegeversicherung sei Dank, muß jeder Handgriff dokumentiert werden. Gegen fünf Uhr fülle ich also noch 28 Pflegeakten aus. Die Bilanz der elfstündigen Schicht: Zwei Müllsäcke voller stinkender Windelhosen, Berge von braungefleckter Bettwäsche, ein knurrender Magen. Das im Pflegegesetz formulierte Ziel der „menschenwürdigen Pflege“ habe ich wohl verfehlt.

Die Übergabe um 6.45 Uhr an den Frühdienst fällt knapp aus: „Nichts Besonderes.“

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