: „Abu Türki hat alles“
■ Anmerkungen eines sozialdemokratischen Volks- und Gewerkschaftsvertreters
Mit diesem Thema kann man als Sozi eigentlich gar nicht gewinnen. Aber mein ÖTV-Boß sagt, ich werde für meine Meinung nicht ausgeschlossen. Mein SPD-Boß? Na ja, bei der Mitgliederentwicklung. Auch mit dem Gewissen ist da nichts. Elisabeth, Ingo und Jan, die Fraktionsmehrheit ist gefährdet! So gesehen einige pragmatische und ideologische Anmerkungen zum Ladenschlußgesetz eher am Rand:
Woher leiten wir (Partei und Gewerkschaft) in einer Gesellschaft, in der 60 bis 70 Prozent als Krankenschwester, Erzieher, Polizist, Kellner, Busfahrer, Automobilbauer bei VW und Schlosser bei Still „in zwei Schichten“ und „rund um die Uhr“ arbeiten, eigentlich die ökonomische und zivile Legitimation für eine staatliche Interventionspflicht zur Regulierung von Ladenschlußzeiten ab? Arbeitsschutzrechte? Nicht gering achten, aber doch heute nicht mehr bei der Frage, ob die Läden um 18.30 Uhr oder 20.00 Uhr zu schließen haben.
Das Gesetz steht noch, aber die Menschen, ob rot, ob schwarz, ob gelb, ob grün, haben es längst zu einem Kaffeehausthema gemacht. Und vor den Kiosken nachts um zehn in Hannover-Linden ist wirklich soziales Leben. Und Abu Türki hat eigentlich alles. Gekühlt, außer Haus und zu Ladenpreisen.
Was haben wir (Partei und Gewerkschaften) eigentlich seit 1969 geleistet, um Teilzeitarbeit für Teilzeitarbeiter/arbeiterinnen gewinnbringend und hoffähig zu gestalten und um damit einen Gegenentwurf zu der Entwicklung der sogenannten „590-Mark-Kräfte“ zu schaffen? Ein millionenfaches Beispiel:
Familie – er hat noch einen Job – sie muß für das tägliche Allerlei dazuverdienen und nimmt sich zwei 590-Mark-Jobs (zusammen 1.180 Mark). Alternative 1.180 Mark steuer- und sozialversicherungspflichtig, Lohnsteuerklasse V: 237,18 Mark Steuern, 262,16 Mark RV/AV/KV; 19,66 Mark Soli und 20,97 Mark Kirche – macht netto 640,03 Mark bei 60 Stunden Arbeit und 20 Stunden An- und Abfahrt im Monat. Der Schrei nach dem schlimmen Unternehmer ist da völlig überflüssig, die Alternative für diese Familie liegt auch so auf der flachen Hand. Der 590-Mark-Job ist begehrt. Nein: Teilzeitarbeit war „links“ ein ideologisch und kein an der Wirklichkeit pragmatisch orientiertes Thema für Partei und Gewerkschaft.
Wo war das Bündnis für Arbeit, als einem für ein Bündnisangebot noch die Füße geküßt worden wären und die alleinerziehenden Mütter auch schon damals die Statistik der Arbeitsämter haben ausschlagen lassen?
Die Sache ist viel klarer als vermutlich die Kanzlermehrheit für den Dicken aus Oggersheim im Bundestag. Wir müssen die wertschöpfungsintensive Arbeit, die sich auch heute hinter den vielen 590-Mark-Jobs verbirgt nur beschäftigungsintensiv retten. Ein Verbotsruf hilft nur über den Parteitag. Sie muß sozialversicherungspflichtig verankert werden. Aber nicht als wohlfahrtsstaatlicher Anspruch. Sie muß für den Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen attraktiv sein.
So gesehen gäbe die Debatte über das Ladenschlußgesetz auch SPD und Gewerkschaften noch eine klitzekleine Chance. Die wonnige Freude über die möglicherweise verpaßte Kanzlermehrheit ist zu wenig. Und auch hier müssen wir akzeptieren, daß die Menschen in ihrem täglichen Tun weiter sind als die Politik in ihrem jahreszeitlichen Handeln. Von verbotenen 590-Mark-Jobs zur „Schwarzarbeit“ ist ein sehr kurzer Weg.
Werner Dobritz
Bürgerschaftsabgeordneter
der SPD
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