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Nie mehr zurück in die Stadt

Die Dauercamper vom Kiessee haben die Schrecken der Zivilisation hinter sich gelassen. Anstatt fernzusehen, sitzen sie lieber im Freien und lauschen dem Vogelgezwitscher  ■ Von Constanze von Bullion

Schneewittchen sonnt sich auf der kleinen Lichtung. Vor ihren Füßen schläft ein Rehkitz zwischen Fliegenpilzen und den sieben Zwergen. Versonnen lächelt die Plastikschönheit den Buntspecht an, der Wasser aus der winzigen Schubkarre nippt. Sie betrachtet die Enten, die durchs grüne Farnkraut watscheln. Und sieht das Eichhörnchen auf dem Terrassentisch, das Elisabeth Huth gerade mit einer Erdnuß füttert. Die Rentnerin mit dem rosarot geblümten Kittel über himmelblauem Jogginganzug ist die ungekrönte Märchenkönigin auf dem Campingplatz am Kiessee. Ihr Reich regiert sie aus dem Wohnwagen.

700 Mark pro Saison kostet ein Stellplatz auf dem Erholungsgelände bei Erkner, wo früher DDR- Betriebe ihre Mitarbeiter ausspannen ließen. „Herberge und Campingplatz Kagel“ heißt der Privatplatz heute. 367 Dauercamper haben dieses Jahr hier ihre Zelte aufgeschlagen, das sind etwa doppelt so viele wie noch vor vier Jahren. Das sandige Idyll am Kiessee gehört zu einer ganzen Landschaft von Zeltplätzen und Karawanenstädten, die sich im Süden von Berlin ausbreitet. In den fähnchengeschmückten Wagenburgen um Müggelsee und Möllensee verbringen zivilisationsgeplagte Großstädter ihre schultheissen Wochenenden. Lassen sich von der Welt belächeln – und wollen nie mehr zurück.

„Hier hab' ick doch allet“, meint Elisabeth Huth. Seit 43 Jahren ist die 69jährige am Kiessee – seit Anbeginn der Zeiten sozusagen. Oder, besser gesagt: noch länger. Denn einen Campingplatz gab es noch gar nicht, als die gebürtige Berlinerin zum ersten Mal hier strandete. „Ich hatte einen Kanadier“, erzählt sie und meint damit das Kanu, mit dem sie in ihrer Jugend durch Tümpel und Kanäle stakte. Eine Sportskanone war die Tochter eines Weißenseer Schuhmachers, die „Handball als Torwart und später Kegelsport“ betrieb. Und um deren Taille „mein Mann rumfassen konnte mit zwei Händen“. Was heute nicht mehr geht. Auch weil ihr Mann „seit 21 Jahren tot“ ist.

Erich Huth war Strippenzieher, wie Elektriker im DDR-Jargon genannt wurden. Von dem Mann, der „vier Jahre lang jeden Abend an seinem ersten Fernseher gebaut“ hat, bekam sie ihre Tochter Evelyn. Die kommt nun jeden Freitag vorbei, um ihrer Mutter Essen zu bringen. Denn in die Stadt fährt die ehemalige Hausmeisterin „nur noch, wenn es sein muß“.

Zu Hause, das sind jetzt ein paar Kiefern in Block A, zwischen denen ein Wohnwagen steht. Im schummrigen Inneren des braun- beigen Ungetüms sitzen zwei Dutzend Kuscheltiere neben einem breiten Doppelbett und dem Campingklo. Drei Stufen geht man hinunter ins angebaute Hauszelt. Moosgrün geblümt ist hier alles: der Vorhang am Eingang, die Bezüge auf den Campingstühlen, die Dekostoffe im Schränkchen. Aus dem weißen Radio dudelt leise Musik. Kein Fernseher, kein Video, nicht einmal eine Kaffeemaschine: „Schließlich muß das ja richtiges Zelten bleiben.“

Was „richtiges“ Zelten ist, weiß auch Holk Wischnewski, dem heute der Campingplatz gehört. Bis zur Wende gab es hier keinen Strom. Bei Kerzenschein saßen die Camper abends zusammen. Da regierte hier noch der „Zeltlerrat“, und es gab weder Randale noch Sprühdosen. Dafür packten alle mit an, wenn Schuppen gezimmert, Pumpen repariert oder Zäune gestrichen werden mußten. Daß heute Baumaterial geklaut wird, meterlange Klopapierfahnen das neue Waschhaus zieren und keiner mehr Kippen und Coladosen zwischen den Zelten wegräumen will, stinkt dem Platzwart gewaltig: „Die denken heute einfach, sie bezahlen doch dafür.“

Elisabeth Huth trauert den alten Zeiten aber nicht nach. Die Vollblutcamperin schlief jahrelang auf einer sperrigen Klappliege. Ihr Wohnwagen mit einem bequemen Bett ist eine Errungenschaft der Nachwendezeit. Bis dahin mußte ein simples Zelt herhalten. Das hielt allerdings nicht lange. Denn aus dem nahen Zementwerk in Rüdersdorf regnete es ätzenden Staub, „der hat Löcher reingefressen in den Stoff“.

Was heute vom Himmel fällt, fängt die riesige Plane ab, die sich über den repräsentativen Teil des Quartiers spannt: die überdachte Veranda. Das halboffene Vorzelt ist gleichzeitig Pförtnerloge und Küche, Bad und Balkon. Kreuzworträtsel werden hier gelöst oder „Topplappen gehäkelt“. Fürs „Mittagbrot“ köcheln Brühnudeln auf einem Miniherd. Gewaschen wird sich in zwei roten Plastikwannen. Wenn Elisabeth Huth in ihrem Arztroman schmökern will, setzt sie sich in den Alustuhl mit den roten Rüschen. Oder wartet einfach auf den Film, der sich tagtäglich bei ihr vor dem Zelt abspielt.

Denn sechzehn Vogelarten gehen auf ihrer Veranda ein und aus. Buch- und Grünfinken, Meisen und ein rostrotes Eichhörchen kommen bis auf den Terrassentisch. Picken und knabbern und lassen sich bestaunen. „Ich bin hier die Entenmutti“, erzählt die Hausherrin, die eimerweise Brot an ihre Schützlinge verteilt und dabei Vorträge über die Qualität von Gartenzwergen hält. Da gibt es die falschen. Die sind aus Gips, und die Farbe blättert ab. Und es gibt die echten: Die sind innen hohl, kommen aus Polen und lachen immer. Wie Schneewittchen eben.

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