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Vom Adolf-Hitler-Platz zum Rathausmarkt

■ taz-hamburg-Serie, Teil 2: Ein Arzt, ein Fabrikdirektor und ein junger Leutnant verhandeln mit den Engländern über die Kapitulation. Hamburgs „Stunde Null“ schlägt am 3. Mai 1945 um 18.25 Uhr Von Heinz-Günter Hollein

In den Augen seiner Offizierskameraden fehlte es Hamburgs Militärbefehlshaber, dem General Alwin Wolz, bisweilen am nötigen Ernst. So auch am Morgen des 3. Mai 1945 im Hauptquartier der Zweiten Englischen Armee in Lüneburg. Auf dem Teller ein Stück Kuchen und in der Hand eine Tasse echten englischen Tees, befand der rundliche Bayer, für so einen Genuß könne man schon einmal kapitulieren.

„Wenn ein Volkskörper dank des Handelns einiger Lumpen zusammenbricht, bedeuten Gehorsam und Pflichterfüllung reinen Wahnwitz, wenn ihre Verweigerung die Errettung eines Volkes ermöglichen“, hatte Generalmajor Wolz in den letzten Tagen des April 1945 einem späten Blick in Adolf Hitlers „Mein Kampf“ entnommen. Der Kommandant der „Festung Hamburg“ gürtete sich daraufhin mit zwei Pistolen und versuchte, seine neugewonnene Einsicht Generalfeldmarschall Erwin Busch nahezubringen. Der ebenfalls nicht gerade schlanke Busch, mit nur 49 Jahren von Hitler zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord ernannt, witterte in seinem zwei Jahre jüngeren Untergebenen sofort den „schlappen Defaitisten“. Hatte der Mann bei Kriegsbeginn doch mit Hinweis auf seine amerikanische Frau glatt seine Entlassung aus der Wehrmacht beantragt. Und schlimmer: Wolz hatte sich 1944 keineswegs über seine Beförderung zum General gefreut, denn er war sich sicher, daß die Generäle der deutschen Wehrmacht von den Alliierten als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt würden. Der Feldmarschall ließ denn auch prompt den Festungskommandanten mit einem klassischen Rückzugsbefehl abblitzen: Statt der Erlaubnis zur Einstellung der Kampfhandlungen erteilte Busch den Befehl, die Elbbrücken zur Sprengung vorzubereiten.

Auch Hamburgs „Gauleiter und Reichsstatthalter“ Karl Kaufmann bemühte sich um Dispens vom „Führerbefehl“ zum „Kampf bis zur letzten Patrone“. Hitlers Testamentsvollstrecker, Großadmiral Dönitz, beschied Kaufmann allerdings, die Elbestellung „zur Rettung deutschen Blutes mit äußerster Zähigkeit“ gegen den englischen Vormarsch zu verteidigen, um den „Abfluß deutscher Menschen“ aus den Ostgebieten nach Schleswig-Holstein zu ermöglichen. Hatten doch, erfüllt von diesem Geist, die Verantwortlichen der „Festung Bremen“ ihre Stadt ohne Zögern einem letzten schweren Bombenangriff und zweitägigen blutigen Straßenkämpfen ausgesetzt.

In Hamburg begann der Weg zur „offenen Stadt“ in der Wohnung des Staatsrechtlers Rudolf von Laun. Hier bat Stabsarzt Herrmann Burchard diskret um Aufklärung über Rechte und Pflichten eines Parlamentärs. Burchard ging es um die Sicherheit seines provisorischen Volkssturmlazaretts in den Harburger Phoenix-Werken, die von der englischen Artillerie beschossen wurden.

Durch von Laun völkerrechtlich wohlinformiert und von General Wolz mit einem Passierschein gegen etwaige Exekutionsgelüste fanatischer Durchhaltekrieger gewappnet, begab man sich zum Feind. Frühmorgens am Samstag, den 29. April, überquerten Stabsarzt Burchard und Phönix-Direktor Albert Schäfer unter den mißbilligenden Augen des Kommandeurs der SS-Einheit „Panzerteufel“ einen sechs Meter breiten Verteidigungsgraben bei Appelbüttel und schwenkten eine weiße Fahne. Als Dolmetscher begleitete die beiden ein junger Leutnant, ausgerechnet von Launs Sohn Otto, der seit einigen Tagen dem Stab des Hamburger „Festungskommandanten“ zugeteilt war. Wie es sich bei feindlichen Unterhändlern gehört, wurde das Trio von den englischen Soldaten eher skeptisch betrachtet und erst einmal mit verbundenen Augen kreuz und quer durch die Nordheide gefahren. Auf dem Bauernhof Lürade fiel der Empfang durch einen englischen Major ebenfalls eher kühl aus, war Stabsarzt Burchard doch gewohnheitsmäßig der rechte Arm zum „Deutschen Gruß“ emporgezuckt. Nach einer erzieherischen Wartestunde konnten die Unterhändler schließlich ihr Ansinnen vortragen.

Der Nachrichtenoffizier der 7. englischen Panzerdivision, Captain Thomas Lindsay, im Zivilleben Musikprofessor in Oxford und Brahmsliebhaber, erkannte sofort Wolzens diskreten Wink, über Otto von Laun mit dem Hamburger Festungskommandanten in Kontakt zu treten. Lindsay machte sich mit seiner Idee einer Kapitulationsaufforderung auf den Dienstweg. 36 Stunden später gelangte die schriftliche Antwort der Engländer unter Direktor Schäfers Einlegesohle durch die Reihen der SS zurück zu Wolz.

In dem Schreiben regte der Kommandeur der 7. englischen Panzerdivision subtil an, Wolz möge doch „dem Beispiel berühmter deutscher Generäle folgen“, die sich zusammen mit ihren Truppen ergeben hätten. „Das können die Herren Engländer haben!“ befand Wolz und bat postwendend um Aufklärung, wie denn „das Problem einer etwaigen Übergabe“ zu besprechen sei.

Als General Wolz Hamburgs „Reichsstatthalter und Verteidigungskommissar“ telefonisch über die neue Entwicklung informierte, war Kaufmann in seinem Pöseldorfer Gefechtsstand gerade dabei, seine Sicht der Stunde in einem Aufruf an „seine Hamburger“ zusammenzufassen: „Das Schicksal des Krieges kann nicht mehr gewendet werden.“ Für Andersgläubige lautete sein Rat: “Wem soldatische Ehre gebietet, weiterzukämpfen, hat hierzu Gelegenheit außerhalb der Stadt“. Und – immer noch um das hanseatische Image bemüht – „das Hissen von weißen Fahnen ist würdelos“. Auch kannte er Hamburgs Arbeitgeber gut genug, um vor der einmaligen historischen Gelegenheit zu großzügigem Personalabbau zu warnen: „Entlassungen aus Betrieben sind verboten“ stand fettgedruckt in der linken unteren Ecke seines Flugblatts.

Kaufmann ließ den Aufruf zwar beim NS-Zentralverlag Franz Eher drucken, aber nur um die gesamte Auflage bis auf weiteres unter Verschluß zu halten. Statt dessen erfuhren die Hamburger am 1. Mai um 22.26 Uhr aus dem Volksempfänger, daß „der Führer, bis zum letzten Atemzuge gegen den Bolschewismus kämpfend“, am Vortag „gefallen“ sei. Die „Hamburger Zeitung“ - nicht erst durch die kriegsbedingte Papierverknappung auf einseitiges Format geschrumpft – würdigte das Ereignis. Zum Einzelpreis von 10 Pfg. (auswärts 15 Pfg.) nahm Schriftleiter Hermann Okraß in einer letzten Ausgabe am 2. Mai feinsinnig „Abschied von Hitler“: „Ein Großer ist von dieser Welt gegangen, und wo ein großes helles Licht verlischt, da regt sich plötzlich im Dämmergrau viel Leben, das vor dem hellen Licht verschwunden war.“

Am Mittag des 2. Mai drängten sich die Menschen vor dem Giradet-Haus am Gänsemarkt. Ein bis heute Unbekannter hatte dort im Schaukasten der „Hamburger Zeitung“ den angeblich in der Druckerei „vergessenen“ Probeabzug des Kaufmann-Aufrufs ausgehängt. Nach tagelangem Bedenkentragen folgte nun binnen Stunden der Nachricht das Ereignis. Zähneknirschend „gestattete“ Großadmiral Dönitz als Hitlers Nachfolger um 17 Uhr Hamburg die „kampflose Übergabe“. Und als um 21.30 Uhr selbst Generalfeldmarschall Busch Hamburg zur „offenen Stadt“ erklärt hatte, konnte sich endlich auch General Wolz unbeschwert zum Feind nach Lüneburg begeben. Und NSDAP-Mitglied Nr. 95, „Reichsstatthalter und Gau-leiter“ Kaufmann, wechselte von der braunen Partei- in eine „feldgraue Beamtenuniform“.

Am Nachmittag des 3. Mai begann die „Operation Baltic“, der englische Einmarsch in Hamburg. Für die britische 7. Panzerdivision war es die letzte Etappe auf einem Weg, der im September 1940 in Ägypten begonnen hatte, durch Libyen, über Tunis, quer durch Frankreich und Belgien geführt hatte und an diesem Tag um 18 Uhr auf dem „Adolf-Hitler-Platz“ vor dem Hamburger Rathaus enden sollte.

Eine leider unbestätigte Anekdote will wissen, daß Carl Vincent Krogmann, 1933 vom „Reichsstatthalter“ zum „Regierenden Bürgermeister“ ernannt, an diesem Mittwochnachmittag um 16.30 Uhr seine erste Erfahrung mit dem Phänomen „Pressefreiheit“ machte. In der Annahme, Hamburg sei bereits seit Mittag fest in britischer Hand, soll ein kanadischer Journalist auf einem Motorrad vor dem Rathaus erschienen sein, um vor einem ratlosen Krogmann seinen Notizblock zu zücken. Das erste Hamburger Nachkriegsinterview kam aber nicht über die Eröffnungsfragen hinaus, so ganz ohne militärische Rückendeckung trat der Kanadier doch lieber einen letzten Rückzug an.

Um 17 Uhr überquerten die ersten Panzer die Elbbrücken, rumpelten den Heidenkampsweg entlang durch die Trümmerwüste Hammerbrooks und schwenkten schließlich am Berliner Tor in Richtung Mönckebergstraße zum Rathaus. Hamburgs Bevölkerung saß, dem letzten Befehl ihres Gauleiters folgend, ab 13 Uhr in ihren Häusern und war bei dem historischen Ereignis nur durch ihre Schupos vertreten, die „verkehrsbegleitend“ wirkten. Mit wenig Enthusiasmus allerdings, binnen weniger Wochen sollten schließlich zwei Drittel der höheren Polizeiführung als „belastet“ entlassen werden.

Die „Stunde Null“ schlug für Hamburg am 3. Mai 1945 um 18.25 Uhr. Brigadegeneral Douglas Spurling übernahm als provisorischer Stadtkommandant die militärische Befehlsgewalt, Oberst Henry Armytage als Militärgouverneur die zivile Verwaltung der Stadt. Am nächsten Tag wurde Gauleiter Kaufmann verhaftet und bis auf weiteres – die Örtlichkeiten waren ja vorhanden – in Neuengamme interniert. Am 11. Mai 1945 wurde ihm Carl Vincent Krogmann zugesellt. Fast genau zwölf Jahren zuvor, am 18. Mai 1933, war per NS-Gesetz für den Hamburger Bürgermeister der Titel „Regierender Bürgermeister“ eingeführt worden. In seinem ersten und einzigen Träger, dem Hamburger Kaufmannssohn Carl Krogmann, verband sich, so einer seiner Senatsräte, „die alte hansische Tradition mit der sieghaften Idee des nationalen Sozialismus“.

Streng völkerrechtlich betrachtet, ging der Zweite Weltkrieg in Hamburg allerdings erst am 15. Juni 1945 zu Ende. An diesem Tag, sechs Wochen nach dem englischen Einmarsch, beglaubigte der Rechtsanwalt und Notar zu Hamburg, Dr. Paul de Chapeaurouge, die Kapitulationsvereinbarungen mit Unterschrift und Stempel. Zwölf Jahre zuvor, am 6. März 1933, einen Tag nachdem die NSDAP in Hamburg bei den Reichstagswahlen 43,9 Prozent erhielt, hatte der Senator Paul de Chapeaurouge sein Amt niedergelegt.

Heute steht in Hamburg wieder – diesmal termingerecht – ein Notar bereit. Ein Zunftbruder de Cha-peaurouges, Dr. Henning Vosche-rau, wird am 3. Mai vor dem Rathaus Prince Charles als Vertreter Großbritanniens zum 50. Jahrestag der Kapitulation empfangen.

Nächster Teil am Mittwoch, 3. Mai

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