: Erregende Langeweile
War er „das größte aller Talente“, wie Ernest Hemingway ihm attestierte? Zwei Romane des vergessenen Erzählers Robert Lowry auf deutsch ■ Von Frank Schäfer
Als Robert Lowry am 5. Dezember 1994 – 74 Jahre alt, völlig verarmt, von seinen vier Ehefrauen und den meisten Freunden verlassen – im Veterans Administration Hospital in Cincinnati starb, hatte ihn die literarische Öffentlichkeit Amerikas so gut wie vergessen. Das einstige Wunderkind der 40er Jahre, dem Ernest Hemingway immerhin bescheinigte, „das größte aller Talente“ zu sein, war lange vorher schon von der Bildfläche verschwunden.
Eine Anfang der 50er Jahre ausbrechende und mit Elektro- sowie Insulinschocks augenscheinlich falsch therapierte Schizophrenie zwingt ihn immer wieder zu Klinikaufenthalten. Alkoholexzesse tun ein übriges. Beides kann freilich seine Produktivität nicht hemmen; selbst während seiner Behandlungen schreibt er weiter. Es erscheint Roman um Roman, und er publiziert regelmäßig Geschichten in namhaften Literaturzeitschriften – bis sich schließlich in Phasen extremer Geisteszerrüttung ein furioser Antisemitismus Luft macht, von dem zuvor keine Rede sein konnte (seine ersten beiden Ehefrauen waren jüdischen Glaubens): möglicherweise Spätfolgen der verkorksten Psychotherapien? Der 1959 während einer solchen Krankheitsphase niedergeschriebene Roman „The Prince of Pride Starring“, dessen augenscheinlich psychotischer Protagonist über Nacht zum rasenden Judenfeind mutiert, stößt auf Ablehnung bei der moralisierenden Kritik und beendet schließlich seine Karriere. Lowry wird als Nazi ins literarische Abseits gedrängt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, wird die im nächsten Jahr bei Rogner & Bernhard erscheinende deutsche Übersetzung des umstrittenen Romans zeigen müssen. Möglicherweise läßt er sich auch als aufrichtiges Protokoll einer Pathogenese lesen, die Lowry an sich selbst mit Erschrecken feststellt und literarisch zu gewärtigen sucht.
Unfälle und Verluste
Vorerst aber hat der Verlag zwei Romane vorgelegt, übersetzt vom Bukowski- und Burroughs-erprobten Carl Weissner, die Lowrys damaligen Ruhm begründeten: das hochgelobte Debüt „Casualty“ (1946) und den Boxerroman „The Violent Wedding“.
Der Erstling verarbeitet Lowrys Zeit bei der Presseabteilung eines Aufklärungsgeschwaders in Italien, wo er in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs eingesetzt war. Und er schildert die nagende Langeweile desjenigen, der nicht zu den Frontkämpfern gehört (dem also auch das Gefühl gesteigerter Vitalität nach dem Stahlgewitter, an dem sich mancher berauschen konnte, völlig abgeht), die Trostlosigkeit und Stupidität des Dienstes, die mit Vorschriften und Reglementierungen aufrechterhaltene Scheinmoralität des Militärs und vor allem die Sinnlosigkeit des Auftrags. Lowrys Hauptfigur, der Gefreite Joe Hammond, schöpft für einen Moment neue Hoffnung, als es anfängt zu schneien und der Schnee den Krieg unter sich zu begraben scheint. Der Traum aber wird jäh unterbrochen. Hammond, der einzige vom Kommiß noch nicht reduzierte Mensch des Romans, der den Wachdienst eines besoffenen Zeltkameraden übernimmt, erwischt und dafür degradiert wird, stürzt nach der anschließenden Zechtour vor einen Armeelaster und wird überfahren.
Der englische Titel „Casualty“, Unfall, nimmt den Schluß vorweg, spielt aber auch auf den militärsprachlichen Euphemismus casualties, Verluste, an. Das läßt sich im Deutschen nicht nachmachen, Weissner zeigt jedoch wenig Gespür, wenn er mit „Die falsche Sanftmut des Schnees“ einen Titel wählt, der die Interpretation gleich mitliefert.
Es kommt einen schon etwas Mißtrauen an, wenn der deutsche Titel des zweiten anzuzeigenden Bandes, „The Violent Wedding“, das gleiche übersetzerische Ungeschick verrät. Weissner wählt „Tag, Fremder“ und hebt damit ohne ersichtlichen Grund (und auch ohne Übersetzernot) einen belanglosen Ausspruch einer bloßen Randfigur auf den Buchdeckel, wo der eigentliche, wieder mehrdeutige Titel das zentrale Motiv benennt: Eine „gewaltsame Hochzeit“ ist – und mit einer gewaltsamen Hochzeit endet auch – die Beziehung der depressiven Malerin Laine mit Paris „Baby“ James, dem Herausforderer im Mittelgewicht. Laine wird angezogen von der animalischen Vitalität des Boxers und glaubt in ihm den verlorenen Lebenssinn wiedergefunden zu haben, wird jedoch von der Mitleidlosigkeit Babys im Kampf – die nur die Mitleidlosigkeit des Lebens selbst ist, denn erwartungsgemäß dient das Boxen auch hier als dessen Großmetapher – enttäuscht und trennt sich von ihm. Der gekränkte Liebhaber erzwingt noch ein letztes Zusammentreffen und vergewaltigt sie. Im Anschluß daran nimmt Laine sich das Leben.
Brutale Hochzeit
Dem Sportreporter Dick Willis stellt sich Babys Kampf gegen den amtierenden Weltmeister Aldi, mit dem die äußere Handlung kulminiert, ebenfalls als gewaltsame Hochzeit dar: „Ihre Langsamkeit, ihr Ernst, die knöchellangen Seidenmäntel und die über den Kopf drapierten Badetücher ließen den Eindruck entstehen, daß hier eine seltsame Hochzeit stattfinden sollte. Und Dick erinnerte sich, daß er irgendwo etwas von Hochzeiten vor ein paar Jahrhunderten gelesen hatte (war es in Ungarn?), wo die Tradition verlangte, daß Braut und Bräutigam sich vorher drei oder vier Nächte lang bekämpften, bis er sie – blutig und zerkratzt und ermattet – schließlich nahm.“ Mit anderen Worten: Die Liebesbeziehung spiegelt sich im Boxkampf – und umgekehrt. Während der englische Originaltitel ins poetische Zentrum trifft, geht „Tag, Fremder“ ins Leere. Morgen, Weissner!
Ob man „The Violent Wedding“ nun gleich als „makelloses Meisterwerk“ ansehen muß, wie Matthias Matussek, der Lowry 1994 im Spiegel ein letztes Porträt widmete und damit die Übersetzung bei Rogner & Bernhard wohl erst angeregt hat, darf man bezweifeln. Allzu eindeutige, rezeptionssteuernde Kommentare der dramatis personae stören bisweilen das Lesevergnügen – „Vorsprecherei der Empfindungen“ hat das Jean Paul einmal genannt. Etwa wenn Laine nach dem überlegenen Sieg Babys sinniert: „(...) was sie einmal begeistert hatte – seine strahlende, leichtfüßige Eleganz –, erfüllte sie jetzt mit Abscheu. War Mitgefühl nicht wichtiger als Macht?“
Allerdings gelingen ihm Charaktere von großer Plastizität und bestechend lakonische Dialoge. Raffiniert auch seine Technik des Perspektivenwechsels: Lowry erzeugt Geschlossenheit, indem er Situationen aus der Sicht unterschiedlicher Personen durchspielt. Und er erzählt mit enormer Verve. Sein Erstling „Casualty“ widerlegt das Diktum, man könne Langeweile, Trostlosigkeit, Tristesse nur mimetisch vergegenwärtigen.
Robert Lowry: „Die falsche Sanftmut des Schnees“. Deutsch von Carl Weissner. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1996, 131 Seiten, 22DM
Robert Lowry: „Tag, Fremder“. Deutsch von Carl Weissner. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1996, 244 Seiten, 27DM
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