: Ein Galgen für die Götzenbilder
Afghanistan ist für den Westen nicht mehr von Interesse. Die ehemalige „Schnittstelle“ zu Asien wird jetzt Agenten fremder Mächte und extremen islamistischen Gruppen überlassen ■ Von John Simpson
„Der Kampf der Menschen Afghanistans gegen die sowjetische Besatzung ist der Kampf der freien Männer und Frauen der Welt.“
Das waren Zeiten, als Ronald Reagan in bezug auf dieses Land noch für so viele von uns sprechen konnte. Da war Afghanistan noch ein atemberaubend schönes, rückständiges Land, das der gesammelten Vernichtungskraft von Waffen des späten zwanzigsten Jahrhunderts ausgesetzt war – und sein einziges Verbrechen war der Wunsch, unabhängig zu bleiben.
„Warum“, fragte Margaret Thatcher auf einer Pressekonferenz 1980, „nennt die BBC diese tapferen Mudschaheddin immer nur ,Rebellen‘? Das sind Freiheitskämpfer, und die BBC soll sie gefälligst auch so nennen.“
Wie sich die Zeiten ändern. Als ich vor ein paar Wochen an der pakistanischen Grenze auf die Einreise nach Afghanistan wartete, las ich in einer Lokalzeitung von einer anderen Pressekonferenz Lady Thatchers. Sie war gerade in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad gewesen, wo sie den letzten Band ihrer Erinnerungen vorgestellt hatte. In dem Interview äußerte sie sich ausführlich über die Beziehungen zwischen Ost und West und das Ende des Kalten Krieges und sprach über die Beziehungen zwischen Pakistan und Großbritannien. Kein Wort über Afghanistan. Sie war in ein Land gekommen, das sehr eng mit dem Krieg gegen die Russen zu tun gehabt hatte, in dem auch heute noch zwei Millionen afghanische Flüchtlinge leben, und sie verlor kein einziges Wort über ein Thema, das ihr angeblich einmal so wichtig war.
Afghanen aller politischen Couleur haben Schwierigkeiten zu begreifen, warum man ihr Land vergessen hat. Für uns ist es vielleicht einfacher: früher war es ein Feld auf dem Schachbrett internationaler Politik – und nun hat sich das Spiel eben geändert. Die Menschen Afghanistans jedoch haben die geopolitischen Phrasen über ihr Land geglaubt, an den Schnittstellen zu Asien zu sitzen, all das Lob, mit dem sie von ihren Freunden aus dem Westen überschüttet wurden. Aber Asien hat offenbar neue Schnittstellen gefunden und die Welt neue Krisen, über die sie sich Sorgen machen kann. Was in Afghanistan passiert, findet keiner mehr wichtig.
Dabei ist es furchtbar. Als ich mit meinen Kollegen in Kabul war, gingen wir etwa zwei Kilometer eine Straße entlang, die aus dem Zentrum zu den Außenbezirken führt. Hier standen einmal zwei Universitäten und fünf Schulen. Jetzt ist da nichts mehr außer Ruinen und Schutt. Im Vergleich dazu ist Sarajevo noch gut weggekommen. Die gelbgrauen Lehmziegel sind zu Staubhaufen zerschlagen. Ab und zu sieht man eine einzelne Seite aus einem Buch über die Schutthaufen flattern. Alles andere, was sich lohnte mitzunehmen, ist längst abgeräumt, trotz der Gefahren durch Minen und nichtexplodierte Bomben.
Nichts davon haben die Russen zu verantworten. Im Gegenteil: Die Universitäten und Schulen waren mit russischer Hilfe gebaut worden. Die Situation ist vielmehr Ergebnis der Kämpfe zwischen verschiedenen Mudschaheddin- Gruppen seit dem Abzug der Russen. Mit der Unterstützung seiner Nachbarn, die kein besonderes Interesse am Frieden in einem so starrköpfigen Land haben, hat in Afghanistan eine Splittergruppe nach der anderen die relativ moderate Regierung Kabuls angegriffen. Als Premier mußte Gulbuddin Hekmatjar manchesmal seinen Weg in die Regierungskoalition brachial erkämpfen, und nicht selten wurde er ebenso brachial hinausgeworfen. Seine Gruppe Hisb- i-Islami wird besonders stark von Pakistan unterstützt, das seine Ersatzkriege mit Indien und Rußland (die die Kabuler Regierung stützt) auf afghanischem Boden austrägt. Auf dieser Linie bekämpfte General Dostam mit heimlicher Unterstützung der Russen Regierungstruppen und war verantwortlich für schlimmste Zerstörungen. Durch iranische Unterstützung kam es auch immer wieder zu Kämpfen mit schiitischen Gruppen.
„Das können sie am besten: sich gegenseitig abschlachten“, sagte mir ein aufgeblasener Regierungsbeamter eines afghanischen Nachbarlandes. „Mit Ihrer Hilfe“, entgegnete ich, so freundlich ich konnte, und erntete ein vorwurfsvolles Kopfschütteln. Für Leute wie ihn ist Afghanistan kein Land, das man ernst nehmen müßte. Es spielt keine Rolle, ist ein politisches Bermudadreieck, ohne wirkliche Regierung, aus dem nichts anderes kommt als Heroin und so schwer Verstümmelte, daß kein dortiges Krankenhaus ihnen mehr helfen kann.
Inzwischen provoziert, mit pakistanischer Unterstützung, wieder eine neue Gruppierung die Regierung in Kabul, die Taliban (das Wort bedeutet „religiöser Student“). Sie haben ihren Ursprung in den Flüchtlingslagern von Qetta nahe der pakistanischen Grenze und sind seit 1994 nach Afghanistan eingeströmt, aus Wut über das Scheitern der Regierung, Grundelemente des fundamentalistischen Islam einzuführen. Sie sind keine besonders guten Kämpfer, aber sie sprechen Paschtu und haben die sprachliche Zersplitterung Afghanistan klug ausgespielt und die Unterstützung vieler Gruppen gewonnen, die die herrische Art der mehrheitlich Tadschik sprechenden Regierungsleute von Kabul satt haben.
Die größten Erfolge der Taliban sind durch Verhandlungen, nicht auf dem Schlachtfeld zustande gekommen. Sie kontrollieren die Hälfte des Landes und fast die Hälfte der Bevölkerung, von Herat im Westen bis zur Grenze mit Pakistan, und ihre Militäreinheiten belagern die Hauptstadt Kabul. Ihre Hauptstützpunkte Qandahar und Herat sind Teil des pakistanischen Telefonsystems, und pakistanische Banken haben in vielen der von ihnen beherrschten Städten Filialen eröffnet.
Die Taliban sind wahrscheinlich die extremste islamistische Gruppierung der Welt. Im Vergleich zu ihnen wirken der Iran und selbst Saudi-Arabien geradezu liberal. In Qandahar, ihrer „Hauptstadt“, scheint es keine Frauen zu geben, und die wenigen, die sich auf der Straße sehen lassen, sind von Kopf bis Fuß in den traditionellen burkhas gehüllt, mit einem Extratuch für das Gesicht. Auf beiden Seiten der Straße, die ins Zentrum führt, stehen zwei wacklige Stahlgerüste. Die Taliban haben dort alte Fernseher und Videogeräte aufgehängt mit Stricken und Tonbändern – wie Kriminelle am Galgen. Die Botschaft ist klar: Fernsehen ist von Übel, da es Abbilder von lebenden Wesen zeigt und sie so zu Götzen macht.
Qandahar ist daher nicht gerade ein einfacher Ort für ein Fernsehteam. Wir bekamen einen aggressiven jungen Mullah als Aufpasser, und er hatte Instruktionen, uns ja nicht die erhängten Fernseher filmen zu lassen. Wir taten es trotzdem, da er keine Ahnung hatte, aus welcher Entfernung man noch filmen kann. Aber es war so gut wie unmöglich, irgendeinen einigermaßen wichtigen Menschen der Taliban zu einem Interview vor der Kamera zu überreden. Einige, offenbar Moderatere, hatten zwar persönlich nichts dagegen, meinten aber, daß es ihre Position innerhalb der Organisation schwächte, wenn bekannt würde, daß man Götzen aus ihnen gemacht hat.
Am letzten Tag sahen wir den talibanischen Gesundheitsminister Mullah Balouch. Er steht im Ruf, ein höchst einschüchternder Mensch zu sein: Als überzeugter Befürworter der Scharia soll er angeblich ihm unterstellte Ärzte dazu zu überreden versucht haben, Verurteilten Hände und Füße zu amputieren. Wenn sie sich weigerten, tat er es selbst. Wie man hört, machte es ihm sogar Spaß.
Wir trafen ihn in seinem Büro, umringt von Bittstellern. Als er uns sah, wedelte er sie aus dem Raum. Die Kamera lief, als ich auf ihn zuging und ihn fragte, ob er uns ein Interview gäbe. Mir wäre im Traum nicht eingefallen, daß er es tun würde. Aber Mullah Balouch erwies sich als Liberaler – außer, was die Scharia betraf. „Es ist Götzenanbetung, das Gesicht eines Menschen zu zeigen, weil man daraus Götzenbilder machen kann. Aber wenn Sie mich nur bis zur Taille zeigen, ist das in Ordnung. Daraus kann man kein Götzenbild machen.“ „Genau“, sagte ich, auch wenn ich kein Wort begriff; und wir filmten ihn nur bis zur Taille.
Es zeigte sich, daß er ein offener Gesprächspartner war – außer bei der Frage seiner eigenen Mitwirkung an Strafaktionen. Er behauptete, mit dem Abschlagen von Händen und Füßen persönlich niemals etwas zu tun gehabt zu haben. Wahrscheinlich war ihm klar, welche Wirkung das auf ein westliches Publikum haben würde. Aber anschließend insistierte er wiederum darauf, daß es für einen Gesundheitsminister nichts Ungewöhnliches sei, Chirurgen zu solchen Amputationen zu überreden. Ich habe ihm nicht widersprochen. Es gab auch so schon wenig Liberale genug, daß man sich nicht gern mit einem der wenigen anlegen wollte.
Auch die Taliban werden vermutlich die Stadt nicht in ihre Hand bringen und den Krieg gewinnen können, wenn sie nicht mit einigen Mudschaheddin-Gruppierungen Kompromisse schließen. Vielleicht sind ihre pakistanischen Freunde und Helfer auch allzu bereit, Afghanistan in seinen Wirren versinken zu sehen, damit dieses Land nicht allzuviel Einfluß auf seine Nachbarn gewinnen kann.
Den wirklichen Preis für die ganze Kämpferei aber zahlen die Bürger der Stadt. Die Taliban behaupten, daß sie – im Unterschied zu Hisb-i-Islami oder General Dostams Soldaten – die Zivilbevölkerung nicht treffen wollen. Das scheint soweit auch zu stimmen – aber die Treffsicherheit ihrer Granaten ist so miserabel, daß ihnen dennoch täglich Menschen zum Opfer fallen. Die Krankenhäuser sind voll mit furchtbar verstümmelten Zivilisten – und da sich keiner um sie kümmert, gibt es für sie wenig Hoffnung.
Ein hoher Beamter der Regierung von Kabul drückte die Meinung aus, daß etwas diplomatische Initiative der Amerikaner, Briten oder Franzosen diese letzte Phase der Kämpfe in Afghanistan beenden könnten. Vielleicht hat er recht, aber die Chance, daß Präsident Clinton oder Premierminister Major sich hier engagieren, zumal sie zu Hause vor Wahlen stehen, ist wohl unendlich gering. Die Afghanen selbst haben, mit Hilfe ihrer Nachbarn, dafür gesorgt, daß ihr Land nur als Schaltzentrale gesehen wird, um deren Hebel sich die verschiedenen Fraktionen die Köpfe blutig schlagen.
Afganistan hat, soweit es den Westen betrifft, in den Achtzigern seine Funktion erfüllt: Es hat mitgeholfen, den Kommunismus in der Sowjetunion und Osteuropa in die Knie zu zwingen. Jetzt ist es nicht mehr wichtig und kann zynischen Kriegsherren überlassen werden, Agenten fremder Mächte, Ultraextremisten, die Fernsehgeräte aufknüpfen und ihre Chirurgen und Krankenhäuser als Verlängerung ihrer Justiz mißbrauchen. Afghanistan: Das sind ein paar Seiten in den Erinnerungen von Politikern – mehr nicht.
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