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Dieses leere, verwüstete Land

Verwackelte Kamerafahrten, suchende Blicke: Die Fotoarbeiten, Videos und Diaprojektionen, die der nordirische Künstler Willie Doherty in Bern zeigt, handeln vom Krieg, doch sie verweigern sich einer eindeutigen Interpretation  ■ Von Jochen Becker

Eine zugemauerte Wohnanlage mit Feuertreppe aus Beton, davor liegt eine Badewanne: „Die Iren sind verrückt.“ Ein ausgebranntes Auto auf einer großen asphaltierten Fläche, im Hintergrund der Brachlandschaft qualmt ein Feuerchen: „Die Iren sind böse.“ Häuserfassaden ohne Türen und Fenster, die Straße ist mit Brettern und Mauersteinen übersät: „Die Iren sind bemitleidenswert.“

Willie Dohertys dreiteilige Fotoarbeit „Von Angesicht zu Angesicht“ erinnert an geläufige Elend-, Opfer- oder Trümmerfotos, an denen man mit einem rasch registrierenden Blick vorübereilt oder die man als Bildstrecke im Stern überblättert. Erst die untereinander austauschbaren Bildunterschriften reißen die Arbeiten aus dem scheinbaren Kanon ihrer Motive heraus, gerade weil diese Untertitel durch häufigen Gebrauch ebenso abgenutzt wirken.

In allen Städten und Regionen kann man Spuren von Zerfall, Vandalismus oder Bürgerkrieg finden. Der Schauplatz von Dohertys Zyklus aber läßt sich erst durch Bildunterschriften, Titelschilder an der Wand oder die nordirische Herkunft des Fotografen bestimmen. Die bereits 1993 im Rahmen der Grazer Ausstellung „Krieg“ (taz vom 6.11. 1993) gezeigte Bildserie demonstriert, wie Geschichte sich durch Politik und Fotojournalismus produzieren läßt.

Doherty, der aus der nordirischen Grenzstadt Derry stammt, formuliert den verfahrenen Istzustand des schon 27 Jahre andauernden „Langen Kriegs“. Er enthält sich zumindest in den künstlerischen Arbeiten einer Festlegung, auf welcher Seite des Konflikts er steht. Dabei vermeidet er es, politische oder religiöse Trennungen zu reproduzieren, ebenso verweigert er sich der Unterscheidung in Aktivist oder Polizist, Täter oder Opfer.

Die Unschärfe, mit der Doherty arbeitet, ist Taktik. Drei Jahre nach der Beteiligung an „Krieg“ und einer durch die inzwischen gescheiterte Waffenruhe unklaren Situation ist sein Blick dramatisch zugespitzt und läßt doch keine weiterführende politische Perspektive zum britischen Kolonialkrieg erkennen. Wenig Freude scheint der Foto- und Videokünstler an anarchistischen Zuständen zu finden, wie sie etwa in einer Fotofolge der FAZ zu sehen war, bei der Kinder auf einer Hauptstraße in Belfast wie bei den Berliner Maifestspielen inmitten der Barrikade herumtollen, Autowracks zusammenschieben und anzünden.

Die Ausstellung „In the Dark“ in der Berner Kunsthalle umfaßt neben einigen Fotoarbeiten vier Räume, in denen Doherty Dias und Videos präsentiert. Die Arbeit „Same Difference“ von 1990 besteht aus zwei Doppeldiaprojektionen, die in aneinandergrenzenden Räumen auf den jeweils gegenüberliegenden Wänden gezeigt werden.

Über dem Kopfbild einer Frau, das von einem Fernsehmonitor abfotografiert wurde, wechseln sich Schriftüberblendungen im Takt des Karussellprojektors ab. Die sich wiederholenden Bezeichnungen – je nach Wand „Mörderin“ oder „Freiwillige“ – werden durch zugeordnete Adjektive ergänzt. „Wahnsinnig“ oder „hinterhältig“, auf der anderen Seite „mutig“ oder „ungezähmt“, so überlagern die Gegensatzpaare das an Fahndungsbilder erinnernde Porträt. Im Unterschied zu dieser demonstrativ mediendidaktischen Arbeit binden die neueren Videoinstallationen die BesucherInnen emotional ein. An die Stelle der Schrift tritt zumeist eine ruhige Erzählerstimme. Die an Reality-TV erinnernde Kameraperspektive und die Tonspuren wiederum zwingen Aufnahme- und BesucherInnenstandpunkt zusammen. Bei der mit einem Blick kaum erfaßbaren Doppelvideoprojektion „Nur ein Toter ist ein Guter“ von 1993 sitzt der observierende Camcorder als Beifahrer hinter der Windschutzscheibe. Auf der einen Seite führt die Kamera über schmale und kurvige Feldwege. Im fahlen Lichtkegel der Autoscheinwerfer blitzen reflektierende Gegenstände am Wegesrand kurz auf, im Hintergrund leuchten die Fenster einer Stadt. Der Videoton überträgt das Rumpeln des Geländewagens, einmal meint man einen Hund auf dem Rücksitz bellen zu hören. Der Blick ins Dunkle reicht gerade dreißig Meter weit; hinter der nächsten Kurve könnten Heckenschützen oder Polizeisperren lauern, Kameraden des Bürgerkriegs warten. Oder ist dort der nächste Pub?

Die Projektion schräg gegenüber zeigt die starre Sicht auf eine nächtliche Straße mit parkenden Autos und schemenhaften Gestalten im flauen Licht der Straßenlaternen. Das ausfransende Bild des Camcorders lädt die Szenerie unheimlich auf, eine männliche Erzählstimme mit irischem Akzent ist in dem halligen Ausstellungsraum kaum zu verstehen. Auf ausliegenden Übersetzungszetteln kann man nachlesen, daß von unsicheren Fahrtrouten, wochenlangen Beobachtungen, von Erschossenen in nächster Nähe und abgehörten Telefonen die Rede ist. Die Sprecherperspektive springt zwischen Täter und Opfer hin und her, übernimmt abwechselnd die Rolle von Polizei, Geheimdienst, Maskierten oder Passanten. Die Undurchsichtigkeit der Situation und der fehlende Überblick erzeugen eine Atmosphäre der Verfolgung.

„Die Windschutzscheibe explodiert um mich herum. Ich sehe einen Klumpen grüner Büsche vor mir, von den Scheinwerfern erleuchtet.“ Der Sprecher stellt sich seine Ermordung vor, die er wie im Kino aus mehreren Blickwinkeln zugleich betrachtet. Es erinnert an hysterische RTL-„Explosiv“-Reportagen. Bild, Ton und Zeitverlauf fordern im Maßstab 1:1 zunehmend die Identifikation durch die BesucherInnen und konstruieren so eine Paranoia, die Distanz weder zeigt noch zuläßt.

„Kein Rauch ohne Feuer“, eine Videoprojektion von 1994, nimmt die Stilmittel des Reality-TV noch deutlicher auf: wackelnde Handkamera bei Nacht, suchende Blicke über den heterogenen Boden; dann ein verengter Zoom und der Lichtkegel des auf die Kamera montierten Scheinwerfers, dazu Straßenlärm. Gras, Erde, Wurzeln und Müll werden von der Kamera ziellos durchstreift. Gilt die Aufmerksamkeit geheimen Waffendepots oder Drogenverstecken, werden Patronenhülsen oder eine Leiche als Beweismittel gesucht, soll eine illegale Müllkippe ausgehoben werden, oder hat jemand seinen Schlüssel verloren?

„Projected Works“ wirken nicht nur technisch, sondern auch mental. Man wird animiert, die Bilder zu ergänzen, das Wissen um die Historie des nordirischen Bürgerkriegs spielt dabei ebenso eine Rolle wie die anhand von TV-Reportagen und Gangsterfilmen eingeübte media literacy. Erfahrungen von Gewalt und Konflikt generieren sich vielfach indirekt und technologisch vermittelt.

Die wandfüllende Videoprojektion „Am Ende des Tages“ aus dem Waffenstillstandsjahr 1994 spielt in der Dämmerung, wobei allerdings nicht zu entscheiden ist, ob bald der Morgen oder die Nacht anbricht. Wieder fährt die Kamera mit Blick durch die Windschutzscheibe über einen Feldweg, diesmal durch idyllische Urlaubslandschaften. Plötzlich leuchten die Scheinwerfer auf eine Straßensperre aus Beton, davor ist ein improvisierter Wendeplatz zu erkennen, nur die Telefonleitungen führen weiter. Der Wagen bleibt vor der Blockade stehen, es folgt ein Spruch wie „Wir wollen den Weg nicht aus dem Auge verlieren“ vom Band, und die Fahrt über den Feldweg beginnt von neuem. Fahrt, Stillstand und Spruch wiederholen sich als Filmschleife im Minutentakt. Der bei Doherty ansonsten unübliche Filmschnitt trägt hier weniger zur Verdichtung des Videos bei, sondern gestaltet den Ablauf noch zähflüssiger. Der Spruch „Es beginnt eine neue Phase“ wird so zur Phrase, und als Sisyphos-Klon fährt der Betrachter wieder zu dem Betonbrocken als roadblock zurück.

In seinem Grazer Katalogtext beschreibt Doherty die Zensur durch die britischen Besatzer in Zeiten des Krieges. Der 1988 in Kraft getretene „Media Broadcast Ban“, der anläßlich der Waffenruhe von 1994 teilweise wieder aufgehoben wurde, sollte IRA und Sinn Féin die Öffentlichkeit entziehen. So konnten Politiker von Sinn Féin nach sechs Jahren erstmals wieder mit eigener Stimme vor der Kamera sprechen, statt eine Zwangssynchronisation über sich ergehen zu lassen. Diese Maßnahmen, so Doherty, machen „die Sprachmittel für die Beschreibung des Kriegs stumpf, so daß jede Möglichkeit, aus dieser offensichtlich verfahrenen Situation herauszufinden, zunichte gemacht wird“. Die sogenannte „Normalisierungspolitik“ bedeutete „Leugnen der Kriegswirklichkeit“. Eine unter Strafandrohung „redigierte ,Wahrheit‘“ (Doherty) schuf auch bei Berichterstattern „eine Atmosphäre von Angst und Selbstzensur“. Insofern unterlaufen Dohertys Aufnahmen und Installationen im Kunstkontext die Anforderungen der britischen Kontrollorgane – selbst in London waren die Bilder zu sehen. So hat etwa das staatliche Arts Council für seine Sammlung in der Londoner Hayward Gallery zwei installierte Arbeiten angekauft. Und auch die Videodoppelprojektion „Nur ein Toter ist ein Guter“ wurde zuerst in der Hauptstadt gezeigt.

Bis zum 1. September in der Kunsthalle Bern. Der Katalog mit Videoprints kostet 30 Franken

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