: Am Rande des Genozids
■ Kreml wird trotz Rückzug keinen Deut nachgeben
Die Ruinen Grosnys wurden erneut zu einem Massengrab. Seit fünf Tagen führen tschetschenische Freischärler eine Offensive wie nie zuvor gegen Rußlands Besatzungstruppen. Armee und Sondertruppen des russischen Innenministeriums treten den Rückzug an. Ungewöhnlich nur, daß Moskaus Militärführung ihre Niederlage sogar eingesteht. Die Dinge im Kaukasus sind dem Kreml seit langem aus dem Ruder gelaufen. Kein Wunder bei einem Krieg, dessen Zielsetzung von Beginn an unklar war.
Den brüchigen Frieden vom Juni zu bewahren, ihn in einen zumindest längerfristigen Verhandlungsprozeß überzuleiten, schien Moskaus Führung nicht gewillt. Sonst hätte es seine Streitkräfte zurückgepfiffen, als sie unter fadenscheinigen Vorwänden Gebirgsdörfer in Schutt und Asche legten.
Si vis pacem, para bellum: Willst du den Frieden, so sei kriegsbereit! Eine bellizistische Weisheit: Doch der Kreml stand nie unter Pazifismusverdacht. Er hätte den Vorgängen im Lager des Gegners mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Am Vorabend der neuen Attacke zogen Tausende von Bürgern mit ihren Habseligkeiten aus der Stadt. Dann dringen Freischärler in Grosny ein und nehmen es fast unter Kontrolle.
Wenige Minuten vor der Amtseinführung Präsident Jelzins halten sie so den Regierungssitz der moskautreuen Marionetten in ihren Händen. Womöglich hißten sie noch ihr Banner, während Rußlands Fahne auf der Kremlkuppel aufgezogen wurde. Die Tschetschenen haben Sinn für Dramaturgie.
Doch warum läßt sich ein Staat, der lauthals um seine Anerkennung als Großmacht ringt, eine Schmach nach der anderen beifügen? Das setzt umgehend Verschwörungstheorien frei. Fest steht nur, daß Rußland dem Souveränitätsstreben der Kaukasier auch aus schwächerer Position keinen Deut nachgeben wird. Nun sind Verhandlungen auf Monate unmöglich geworden. Kurzum: Die Militärs dürfen damit rechnen, daß ihnen der Auftrag nicht entzogen wird. Man braucht Kanonenfutter. Daher wird die geplante Armeereform wieder auf sich warten lassen. Die korrupte Militärführung braucht keine Ermittlungen zu fürchten.
Grausiger noch: Das tschetschenische Volk steht am Rande des Genozids. Rußlands Armee ist dazu allemal in der Lage. Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen