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Ein trauriger Quarantäne-Sommer

Die Bürger der japanischen Stadt Sakai sind die ersten Massenopfer einer weltweit grassierenden Epidemie. Die üblichen Sommerfeste fallen aus, und die Schwimmbäder bleiben geschlossen  ■ Aus Sakai Georg Blume

Vor langer Zeit trug Sakai aufgrund seiner weitläufigen Kanäle und herrlichen Tempel den klangvollen Namen „Venedig des Orients“. Heute ist der gute Ruf der Stadt verklungen. Die Millionenmetropole an der Bucht von Osaka gilt im japanischen Volksmund als „stinkig und dreckig“. Bürger aus Sakai haben Probleme, in anderen Städten ein Hotel zu buchen oder Ferienquartiere zu bestellen. Kinder aus Sakai, die nach den Ferien die Schule wechseln, müssen in der neuen Schule besondere Gesundheitsdokumente vorlegen.

„Das Reisebüro hat unsere Strandhotel-Reservierung problemlos akzeptiert“, stellt Akira Kobayashi, 36, erleichtert fest. „Doch unsere Nachbarn mußten ihre Campingferien absagen.“ Im Gesundheitsamt von Sakai räumt Vizedirektor Nobutetsu Shimoo ein: „Unsere schwierigste Aufgabe ist jetzt, die Menschenrechte der Bewohner durch die Anwendung des Epidemiegesetzes nicht zu verletzen.“ Aus der Ferne betrachtet, erscheinen Sakais Sorgen geradezu absurd: Seit wann führen Lebensmittelvergiftungen zu Menschenrechtsverletzungen? Doch für die Betroffenen ist das zum Problem geworden.

Seit vor fünf Wochen 6.300 Kinder in Sakai durch verseuchtes Schulessen von dem Darmbakterium „0-157“ befallen wurden, herrscht in der Stadt quasi Ausnahmezustand. Den meisten Kindern ist es verboten, draußen zu spielen. Die in dieser Jahreszeit üblichen Sommerfeste sind abgesagt. Schwimmbäder bleiben geschlossen. „Für die Kinder ist das ein trauriger Sommer“, sagt Kobayashi, der seine beiden Kinder nur noch ungern in die Kindertagesstätte bringt. „Wir haben Angst vor der Ansteckungsgefahr.“

Obwohl die Zahl der stationär behandelten Patienten in Sakai auf zuletzt 107 Fälle sank, überkommt niemand Erleichterung. Schon neun Opfer hat die Seuche im ganzen Land gefordert. Besonders gefährdet sind Kinder und Säuglinge, bei denen die Krankheitserreger lebensbedrohliche Durchfälle auslösen können. Alle Schulkinder von Sakai mußten deshalb in den letzten Wochen an Stuhltests teilnehmen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Unter 48.000 Kindern wurden bis zum Mittwoch mindestens 744 neue Infektionen nachgewiesen. Ein großer Teil davon hat offenbar zweitgradige Ansteckungen erlitten. Die Infektionsgefahr von Mensch zu Mensch, bisher nur in interfamiliären Fällen nachgewiesen, ist nicht von der Hand zu weisen.

„Wir sagen den Kindern, sie können zusammen spielen, wenn sie sich anschließend gründlich die Hände waschen“, erläutert Yasuhiro Bisen vom städtischen Schulamt in Sakai. Doch dieses Wenn ist den meisten Eltern schon zuviel. Zumal sie von den Behörden unterschiedliche Signale erhalten: So rät das Tokioter Gesundheitsministerium, auf die Isolation von Patienten zu verzichten, während das Erziehungsministerium infizierten Kindern in Zukunft den Schulbesuch verbieten will.

In Wirklichkeit überfordert das bisherige Ausmaß der 0-157-Epidemie in Sakai selbst die Experten. Vergleichbare Fälle in den USA oder in Deutschland, wo in den letzten Monaten sieben Kinder an ähnlichen Vergiftungen starben, führten nie zu Masseninfektionen wie jetzt in Sakai. „Nicht alles, was international über 0-157 bekannt ist, läßt sich auf unseren Fall anwenden. Soziale Folgen wie die Diskriminierung der Opfer und die Angst der Erwachsenen hat es anderswo nicht gegeben“, meint der Erziehungsbeamte Bisen.

Zum Teil haben Stadtbehörden und Regierung das Chaos selbst angerichtet: „Alle Maßnahmen kamen zu spät und immer nur in Reaktion auf die Ereignisse“, klagt Familienvater Kobayashi in Sakai. Das langsame Agieren der Behörden hatte freilich Methode: Tokio wollte eine landesweite Panik verhindern. Zu diesem Zweck streute das Gesundheitsministerium den Verdacht, Rettichsprossen seien im Fall Sakai die Träger der giftigen Bakterien gewesen. Seitdem redet ganz Japan von Rettichsprossen. Nur in Sakai wußten es die Betroffenen besser: Da die fragliche Rettichzucht in der Nähe von mehreren Schlachthöfen lag, standen diese im Verdacht, das Grundwasser verseucht zu haben. „Bakterien kommen von Tieren, also kann Rettich nicht der eigentliche Verursacher sein“, betont Gesundheitsamtschef Shimoo. „Persönlich hätte ich Angst davor, ungekochtes Rindfleisch zu essen.“

Vielleicht ist Sakai heute die seuchensicherste Stadt in Japan. Die Bürger verzichten auf alles Rohe, vor allem auf Fleisch, desinfizieren Küchengeräte und waschen sich gründlich die Hände. Inzwischen aber breitet sich die Epidemie aus: Erstmals wurde das 0-157-Bakterium jetzt in Rindfleisch aus Osaka festgestellt. Sakai könnte nur der Anfang gewesen sein.

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