: "Das war Dantes Inferno"
■ Ein Gespräch mit dem Fotografen Miron Zownir, dessen Arbeiten aus Moskau derzeit im Tresor zu sehen sind - Bilder von Obdachlosen, Nutten, Sterbenden
Daß es reißerische Fotos gibt, ist nichts Neues. Die einschlägigen Illustrierten sind voll davon. Doch die Bilder, die Miron Zownir in Moskau gemacht hat, sind anders. Es sind Dokumente einer Gesellschaft, in der die Schwachen allein gelassen werden. Hart bis an die Schmerzgrenze, spricht aus ihnen dennoch Mitgefühl und Sympathie.
Der Fotograf und Filmemacher Miron Zownir wurde 1953 als Sohn eines Ukrainers und einer Deutschen in Karlsruhe geboren, ging mit zwanzig nach Berlin, lebte anschließend in London, den USA und seit eineinhalb Jahren wieder in Berlin. Die Reise, die ihn letztes Jahr für drei Monate nach Moskau führte, hatte Zownir-Fan Klaus Becker vom Hamburger Erotic- Art-Museum finanziert.
taz: Du hast in Moskau Obdachlose, Nutten, Sterbende fotografiert. Wie kaputt ist diese Stadt wirklich?
Miron Zownir: Moskau ist die kaputteste und aggressivste Stadt, in der ich je war. Ich habe lange in den USA gelebt, in Los Angeles, Pittsburg und New York. Aber gegen das, was ich in Moskau erlebt habe, ist Amerika harmlos.
Hast du um Erlaubnis gefragt, bevor du fotografiert hast?
Es gab Situationen, in denen Typen sich geprügelt haben oder einen Tobsuchtsanfall kriegten. Da habe ich natürlich nicht um Erlaubnis gefragt. Wenn ich merkte, daß mich jemand gesehen hat, habe ich mit einer Geste ausgedrückt, daß ich ihn gern fotografieren möchte. Aber ich hätte das Foto auch gemacht, wenn er nicht einverstanden gewesen wäre.
Du sprichst kein Russisch. Wie hast du dich mit den Menschen verständigt?
Zum Teil gar nicht, weil die Leute zu lethargisch waren, um auf mich zu reagieren. Ansonsten lief die Verständigung über Augenkontakt und Zeichensprache. Ich habe an deren Reaktion gesehen, daß sie das in Ordnung finden.
Wie hat das funktioniert? Du gehst auf jemand zu, hast die Kamera in der Hand...
Die meisten waren sehr überrascht, daß sie überhaupt irgendeiner wahrnimmt. Die sind es nicht gewohnt, daß man sie registriert.
Und was machst du dann? Weglaufen?
Nicht unbedingt. Aber es gab Situationen, in denen mir jemand die Hand vor die Kamera gehalten hat. Ich bin auch dauernd von Milizen verfolgt worden, die hatten mich ziemlich auf dem Kieker. Ich war ja immer an den gleichen Ecken, den Bahnhöfen, den Tunnels, da bin ich natürlich schnell aufgefallen. Ich mußte mir von einem Museum eine Bestätigung holen, daß ich nur harmlose Fotos mache. Die Russen sind stolze Menschen. Da gab es alte Frauen, die mir in die Kamera griffen oder einer Hilflosen noch schnell den Rock heruntergezogen haben, um die entblößten Geschlechtsteile zu verdecken.
Wie nahe sind dir solche Augenblicke gegangen?
Sehr nahe, aber nicht so nahe, daß ich nicht fotografiert hätte. Ich hätte die Kamera auch beiseite legen können und sagen, Tote zu fotografieren, das ist das absolut Letzte. Das war für mich eine sehr zwiespältige Sache. Ich wollte die Fotos machen, aber es hat mir kein heroisches Gefühl gegeben. Während ich die Kamera vor mir hatte, war sie wie ein Schutzschild. Aber nachträglich waren das sehr traurige Momente.
Hast du Fotos gestellt? Jemanden gebeten, irgend etwas Besonderes zu tun?
Ohne die Sprache zu sprechen? Mit wem hätte ich denn inszenieren sollen? Und wofür? Was ich fotografiert habe, hat sich mitten in der Öffentlichkeit abgespielt. Wenn ich da noch inszeniert hätte, das wäre ein Spektakel geworden, die hätten mich gelyncht.
Was hat Klaus Becker zu deinen Fotos gesagt?
Klaus Becker hat mir die Reise finanziert, weil ihm die Fotos, die er bis dahin von mir gesehen hatte, offensichtlich gut gefallen hatten. Er dachte, daß ich der richtige Mann bin, um in Moskau interessante Fotos zu machen. Aber er hat wahrscheinlich andere Bilder von mir erwartet. Vielleicht nicht das Night-life-Klischee, aber so was in der Richtung. Er findet die Moskau-Fotos sicher gut. Aber ausgestellt hat er statt dessen Gemälde von Udo Lindenberg.
Sind deine Fotos voyeuristisch?
Wer voyeuristische Lust hat, einen Toten zu sehen, ist meiner Meinung nach ein Sadist. Aber ich kann da keine Grenze ziehen. Das muß jeder für sich selbst entscheiden. Wie meine Fotos interpretiert werden, kann ich nicht steuern.
Was willst du mit deinen Fotos bezwecken? Das Publikum schockieren?
Also, schockieren sowieso nicht. Es gibt acht Bahnhöfe in Moskau, ich bin in jeden gegangen, jeden Tag. Es gibt so viele dunkle Ecken auf den Bahnhöfen, auf den Gleisen, hinter den Güterwaggons. Ich habe die Leute immer mit meinen Fotos geschockt, aber es ging mir nicht um den Schockeffekt, sondern darum, was mich persönlich interessiert. Das sind Dokumente aus einer Stadt, wie sie hier keiner kennt. Da sterben die Menschen mitten auf der Straße und bleiben noch ein, zwei Tage liegen, weil sich niemand um die Leichen kümmert. Mich hat das überwältigt. Wenn das schockt, bitte, aber das war nicht mein Interesse. Ich lehne jede Selbstzensur ab. Ich würde meine Fotos überall zeigen. Die soll jeder sehen.
Was hast du empfunden, als du wieder in Berlin warst?
Der Westen kam mir sehr oberflächlich und leer vor. Wie Disneyland, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Ich habe Monate gebraucht, um mich zu regenerieren. Ich hatte in Moskau eine kleine Kamera dabei, mit der ich sehr nah rangehen mußte. Ich bin mit Gerüchen konfrontiert worden, habe Geräusche gehört, Röcheln, das aus dem tiefsten Inneren kommt. Das war die Hölle, Dantes Inferno. Diese Lebensintensität, dieser Existenzkampf, diese totale Niedergeschlagenheit... Ich habe noch nie Menschen gesehen, die sich so schnell besaufen.
Du warst das erste Mal in Rußland. Wirst du wieder hinfahren?
Auf jeden Fall. Als ich dort war, habe ich Alpträume gehabt. Wenn ich noch eine Woche länger in Moskau geblieben wäre, hätte man mich in eine Zwangsjacke stecken können. Ich war zum Schluß körperlich und psychisch am Ende. Ich bin aus dieser Stadt geflohen. Aber ich will wiederkommen. Interview: Ulrich Clewing
Fotos von Miron Zownir, bis Ende September im Tresor, Leipziger „Platz
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