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Der Kunde ist König – und riecht nicht gut

Verkäuferinnen: Sie demonstrieren gegen den Rest der Welt. Gisela Romanowski ist eine von ihnen  ■ Von Vera Gaserow

Am schlimmsten ist die Luft. Wenn die Klimaanlage mal wieder zu blöd ist, Sommer und Winter zu unterscheiden. Wenn plötzlich die große Hitze ausbricht, obwohl der Wetterbericht „für die Jahreszeit zu kühl“ angesagt hat. Oder wenn es draußen regnet und die vielen Menschen mit ihren nassen Klamotten ein Treibhausklima erzeugen. Und dann die diversen Ausdünstungen dieser fremden Körper. Kunden stinken. Das würde Gisela Romanowski so nie sagen, jedenfalls nicht laut. Der Kunde ist König, und Könige stinken nicht. Aber durch Gisela Romanowskis Nase zieht nun einmal dieses Miefgemisch aus Parfümerieabteilung, gebrannten Mandeln, Lederwaren und Kundenschweiß – fünf Tage die Woche, von morgens halb zehn bis abends halb sieben.

Am zweitschlimmsten ist der Lärm. „Wechseln Sie auch Batterien aus?“ – „Ich hätte gern 'nen Wecker, so 'nen kleinen.“ – „Entschuldigung, wo find' ich denn Reißverschlüsse?“ – „Die kleine Jasmin sucht ihre Mutti, sie wartet in der Schuhabteilung.“ – „Nein danke, ich will nur mal gucken.“ – „Dreifünfnull, bitte Fernruf.“ Diese Geräuschkulisse, dieses Stimmengewirr und das ewige Gepiepse von Scannern und Sicherheitsschleusen. Nach Feierabend, wenn Gisela Romanowski die Beine hochlegt, schwirrt ihr der Kopf. Seit sechzehn Jahren geht das so: morgens den Tresorschlüssel holen, den für die wertvolleren Uhren, Kasse aufschließen, freundliches Gesicht aufsetzen. Seit 1980 steht sie hinter dem gläsernen Ladentisch, gleich hinter der Schreibwarenabteilung, unten rechts im Erdgeschoß einer Berliner Karstadt-Filiale. Gisela Romanowski ist Verkäuferin, eine von drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel und eine von denen, die mit Plakaten gegen die Änderung des Ladenschlusses und für höhere Löhne demonstrieren.

Gisela Romanowski ist gerne Verkäuferin, „aber nur bis 18.30 Uhr“. „Ungeheuer anstrengend, miese Arbeitszeit, beschissene Bezahlung“, beschreibt sie ihren Beruf. Aber eigentlich möchte sie keine andere Arbeit: „Ich verkaufe einfach unheimlich gern.“

Gisela Romanowski ist eine Ausnahme, mit ihren sechzig Jahren eine Rarität. So lange halten nur wenige durch, für die meisten VerkäuferInnen ist mit Mitte Fünfzig Schluß. Das Kreuz, die geschwollenen Beine, die Kniegelenke – vorzeitiger Ruhestand. Aber Gisela Romanowski ist auch die Regel: jahrelang Hausfrau, ungelernt, geschieden, Quereinsteigerin, das ist keine untypische Verkäuferinnenbiographie.

Mit ihrem Leben hatte sie etwas ganz anderes vor: Mannequin, Filmkomparsin. In ihrer Jugend hat sie in vielen Bereichen gejobbt, „das war 'ne tolle Zeit“. Dann hat sie ihren Mann kennengelernt, einen Großhändler im Gold- und Juweliergeschäft, der hat sie „in die bessere Gesellschaft“ eingeführt und ihr im Gegenzug den Platz am heimischen Herd zugewiesen. Nach achtzehn Jahren kam die Scheidung, ein sozialer Abstieg von hundert auf null. Gisela Romanowski zog aus der Villa aus. Die beiden Söhne blieben beim Vater, der Wohlstand auch. Auf Unterhalt hat sie verzichtet, nicht aus Stolz, sondern „aus Dummheit“.

Sie hat einen Imbißwagen gekauft und von morgens bis abends Bratwürstchen verkauft. „Da hatte ich in der U-Bahn immer viel Platz um mich herum, so hab' ich gestunken.“ Sie fand schließlich einen anderen Job. Eine Uhrenfirma suchte eine Repräsentantin für ihren Stand in der Karstadt-Filiale. Gisela Romanowski arbeitete dort auf eigene Rechnung und wechselte dann als Verkäuferin in die Uhrenabteilung.

„Ich hätt' gern ein Armband, aber nicht zu lang“, solche Kunden „liebt“ sie besonders: keine präzisen Wünsche äußern, aber nörgeln. Solche Kunden kommen gleich nach denen, die beim Kauf eines Weckers ihre ganze Lebensgeschichte loswerden müssen. Die Krönung sind die, die einfach nur sagen: „Ich will eine Uhr.“ So, als ob sie sich das nicht hätte denken können. Dann geht das lästige Frage- und Antwortspiel los: „Was für eine darf es denn sein?“ – „Ne gute.“ – „Wir führen nur gute.“ Und wenn sie gerade die Palette der Uhren ausbreitet, die Vorzüge ihrer Lieblingsmarken erklärt, dann geht der Kunde. Mit der Ausrede, die Gisela Romanowski am meisten haßt: „Ich komme morgen noch mal wieder mit meiner Frau.“ Dann kocht sie manchmal innerlich und muß doch wieder freundlich sein.

Gisela Romanowski hat sich mit den Jahren eine eigene Souveränität zugelegt: „Als Ältere habe ich es da leichter. Da haben die Kunden mehr Achtung. Ich behandele die Leute so freundlich wie sie mich. Für mich ist der Kunde nicht immer König. Er ist ein Mensch so wie ich auch.“ Am meisten Spaß macht es ihr, die unschlüssigen Käufer zu überzeugen. Da mobilisiert sie ihren Ehrgeiz und erklärt „alles ganz schön“.

Gisela Romanowski will Umsatz machen. Das braucht sie für ihre eigene Zufriedenheit. Eigentlich könnte sie den lieben langen Tag auch nur die Vitrinen putzen. Aber wenn die Einnahmen in der Kasse abends flau sind, dann geht sie „mit einem blöden Gefühl nach Hause“. Eigentlich kann ihr das egal sein, ihr Verdienst bleibt immer gleich „bescheiden“. Knapp 2.000 Mark netto bekommt sie, und das, obwohl sie in der höchsten Tarifstufe für einfache Verkäuferinnen ist. Was bei einem solchen Verdienst in ein paar Jahren als Rente rauskommt, will sie lieber gar nicht ausrechnen. Um eine Lohnerhöhung von 1,8 Prozent streiten die Tarifparteien im Einzelhandel. Für Gisela Romanowski wären das 25 Pfennig mehr pro Stunde.

Verkäuferinnenarbeit ist fast ausschließlich Frauenarbeit. Welcher Mann ließe sich das schon bieten? 2.000 Mark für einen Knochenjob, „wo man sich abends zu Hause gar nicht erst hinsetzen darf, sonst kommt man nicht mehr hoch“. Die Beine sind wie Blei, der Rücken ein einziges schmerzhaftes Korsett. Neun Stunden stehen auf hartem Betonfußboden, zwei kurze Pausen am Tag, und dabei möglichst noch hochhackige Schuhe tragen – irgendwie war das bei der Schöpfung der Menschheit nicht vorgesehen. Von Gisela Romanowskis Kolleginnen hat fast jede „was am Rücken“. Auch sie hat ihre Wirbelsäule ruiniert. Zeitweilig war der Krankenstand auf 60 Prozent angestiegen. Jetzt hat die Angst vor Entlassungen die Quote etwas gedrückt. Die Sorge um den Arbeitsplatz ist berechtigt. Zwanzig Kolleginnen waren sie in der Uhrenabteilung, als Gisela Romanowski dort anfing, jetzt sind sie dreizehn – bei steigendem Umsatz.

18.30 Uhr, der erlösende Gong und die einschmeichelnde Lautsprecheransage: „Sehr verehrte Kunden, wir schließen nun unser Haus. Wir danken Ihnen für Ihren Einkauf und wünschen Ihnen und unseren Mitarbeitern einen guten Nachhauseweg.“ Das war das Signal: Die beiden Damen, die Gisela Romanowski schon seit zwanzig Minuten um den Stand schleichen sieht, haben sich zum Kauf entschlossen. Die Kasse ist schon zu. Ein abgehetzter junger Mann braucht unbedingt noch eine „swatch“, sonst kriegt er „tierisch Ärger“. Doch auch Verkäuferinnen können gnadenlos sein: „Da müssen Sie eben morgen wiederkommen. Wir wollen auch mal nach Hause. Feierabend!“ Der junge Mann grummelt. Wieder ein glühender Verfechter für den längeren Ladenschluß.

Ladenschluß. Bei diesem Thema hört Gisela Romanowskis Liebe zum Beruf auf: „Wenn mir nur mal einer erklären könnte, was für Vorteile das hat. Wir sehen das doch jetzt schon am langen Donnerstag. Nicht eine Verkäuferin wird neu eingestellt, das Personal morgens wird ausgedünnt, die Arbeitszeit einfach nach hinten verschoben. Und die Kunden, die früher um fünf Uhr kamen, kommen jetzt um sieben. Da kommt nicht eine müde Mark mehr in die Kassen. Im Kaufhaus kann man die Arbeitszeiten ja noch hin und her schieben, aber in einem kleinen Laden doch nicht. Das ist für die kleinen Einzelhändler eine Katastrophe.“

Gisela Romanowski würde es nicht viel ausmachen, abends zwei Stunden länger zu arbeiten. Sie hat niemanden mehr zu versorgen. Aber als aktive Gewerkschafterin und Betriebsrätin geht sie auf die Barrikaden. „Dreimal die Woche Spätdienst bis 20.30 Uhr, da müßten einige Kolleginnen ihren Beruf aufgeben. Viele haben einen langen Anfahrtsweg, die wären vor zehn Uhr abends nicht zu Hause. Welche Familie mit Kindern soll das denn aushalten?“ Aber im Gegenzug hätten die Verkäuferinnen doch tagsüber frei. „Und was können die mit der Zeit anfangen?“ Sie redet sich richtig in Rage. „Die Kinder sind in der Schule, da können Sie vielleicht Staub wischen, aber sonst nix.“ Kino, Theater, Volkshochschule, Tagesschau – all das ginge an ihrem Berufszweig vorbei: „Das ganze gesellschaftliche Leben ist doch nicht auf eine Arbeitszeit bis 20.30 Uhr eingestellt.“

Nicht eine ihrer Kolleginnen sei freiwillig bereit, abends noch länger zu arbeiten: „Da wird es auch Krieg untereinander geben. Jede wird versuchen, frühe Schichten zu kriegen. Die Leute sind wütend“, sagt Gisela Romanowski als Gewerkschaftsfrau. Und als Privatperson: „Die Leute haben Angst um den Arbeitsplatz. Die Leute kriegen den Arsch nicht hoch, finden es auch ganz bequem, ihre Wut den Gewerkschaften zu überlassen“, das sagen beide Gisela Romanowskis nicht. Als sie im April früh um fünf in einen Sonderzug der Gewerkschaft stieg, um unter dem Motto „Hände weg vom Ladenschluß!“ gen Bonn zu marschieren, da saßen aus der großen Karstadt-Filiale gerade mal vier KollegInnen mit im Abteil.

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