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Chemie zwischen Boom und Krise

Die Giganten melden Rekordgewinne, aber insgesamt klagt die Branche über sinkende Umsätze. Der Verbandschef fordert eine Reform der Unternehmenssteuern  ■ Aus Frankfurt Klaus-Peter Klingelschmitt

Diesmal werden offenbar nur die Saurier überleben – auch in der immer noch gerne als Wachstumsbranche apostrophierten Chemieindustrie. Tatsächlich wachsen nur die Krisensymptome und die Zahlen ehemaliger Chemiewerker. Zwar haben die Giganten Hoechst, Bayer und BASF bei der Vorstellung ihrer Halbjahresbilanzen Rekordgewinne vermeldet. Im Interesse des neu entdeckten „Shareholders Value“ und mit gierigem Blick auf immer neue Rekordmarken sind schon weitere „Rationalisierungsmaßnahmen“ angekündigt. Gemeint sind Entlassungen.

Doch der Rest der Branche dümpelt vor sich hin. „Fast sechsprozentige Umsatzeinbußen“ in den ersten sechs Monaten 1996 im Vergleich mit dem Vorjahr mußte gestern der Vorsitzende des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Jürgen Strube, konstatieren. Strube selbst verdient sein Geld bei der BASF. Er ist sich sicher, daß die kleineren Branchenbrüder ihren Rückstand in der laufenden Saison 1996 nicht wieder wettmachen können. Auf das gesamte Geschäftsjahr bezogen, müsse deshalb mit einem durchschnittlichen Umsatzrückgang von einem Prozent gerechnet werden. Der von Strube beklagte „Preisverfall“ von 3,3 Prozent, der die Hauptverantwortung für den Umsatz- und Produktionsrückgang (minus 3,5 Prozent) in der Branche trage, könne im Jahresverlauf allerdings doch noch abgefangen werden. Unter Umständen, hofft Strube, seien im Herbst sogar leichte Preiserhöhungen am Markt durchsetzbar.

Die Riesen der Branche dürften von den Klageliedern ihres Verbandschefs kaum gerührt sein. Hoechst oder die BASF von Strube konzentrieren sich auf die lukrativen Kerngeschäfte und verabschieden sich von den die Konzernbilanzen belastenden Geschäftsbereichen – samt den dazugehörigen Belegschaften. Die Chemiekonzerne boomen, die Kurse ihrer Aktien steigen – und nur die Beschäftigtenzahlen sind konstant rückläufig.

Doch genug ist nie genug, genug kann nie genügen. Und deshalb wird auch Jürgen Dormann, Vorstandsvorsitzender von Hoechst, seinem Kollegen Strube gestern nicht widersprochen haben, als der bei den Politikern in Bonn die „längst überfällige Unternehmenssteuerreform“ einklagte. Die müsse so konzipiert werden, daß sie die Unternehmen deutlich entlaste und „Wettbewerbsnachteile“ deutscher Unternehmen im Vergleich mit dem Ausland beseitige.

Die Vorschläge der Oppositionsparteien zur Gegenfinanzierung von Steuersenkungen lehnte Strube rundweg ab. Wer „sachlich gebotene“ Rückstellungen und Abschreibungen der Firmen nicht anerkennen wolle, steigere die Krisenanfälligkeit und mindere die Investitionsfähigkeit der Unternehmen: „Das ginge dann zu Lasten unserer Arbeitsplätze.“

Doch zum Arbeitsplatzabbau braucht es offenbar nicht erst Gegenfinanzierungsmodelle von SPD und Bündnisgrünen zur geplanten Senkung der Unternehmenssteuern. Im ersten Halbjahr 1996 verringerte sich die Anzahl der Beschäftigten in der gesamten Branche um drei Prozent. Hoechst etwa schmeißt gerade seine Kantinenbeschäftigten – rund 100 Frauen und Männer – raus. Die Küchenbetriebe werden ausgelagert.

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