Lidokino
: Nicht auf den Pianisten schießen!

■ Verfremdung bei Jean-Luc Godard, geplünderte Requisite bei Otar Iosseliani

Godards Wettbewerbsbeitrag „Forever Mozart“ war schon fast ein Skandal, bevor ihn irgend jemand in Westeuropa überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Dabei wußte man eigentlich nur, daß er sich mit dem Balkankrieg beschäftigt, daß er bereits in Sarajevo vorgeführt worden war und daß die Hälfte der Leute das Kino verlassen hatte, weil Szenen eines Krieges dort zu sehen seien, den sie zu gut kannten. Bezeichnenderweise hatte sich dabei die Vorstellung verbreitet, Godard verwende Nachrichtenmaterial. Natürlich ist alles ganz anders.

Man muß beim Zusehen im Hinterkopf behalten, daß dies mindestens der dritte französische „Bosnienfilm“ ist – nach „Bosna!“ von Bernard Henri Lévy und Marcel Ophuls „Vieilles d'armes“ – und daß französische Intellektuelle einen Lackmustest für geistige Redlichkeit aus der Frage gemacht haben, wie man zur Intervention steht. Dabei spielte die Erinnerung an Spanien eine Rolle, aber auch die an die Dreyfusaffäre, in der ebenfalls ein Intellektueller, Emile Zola, mit „J'accuse“ die Stimmung umkippen ließ.

„Forever Mozart“ beginnt mit Beethoven-Klängen, wenigen, abgebrochenen, in Paris gespielt, wo eine Art Familie zusammenkommt. Es redet aus ihnen. Sie gehen erst in Buchhandlungen – reimt sich Marivaux auf Sarajevo? – und besorgen dann Landkarten. Camus kommt ins Gepäck. War es ein Bürgerkrieg? Man scherzt nicht mit der Liebe. Ein Alter tritt auf, mit ins Gesicht gezogener Schiebermütze, ein Spanienkämpfer. Castro, dieser Idiot! Auch Dreharbeiten sind im Gang: „Bolero fatal“ ist der Titel; beim Vorsprechen weniger Sätze, die mit „La guerre est simple“ beginnen, kommen die meisten nur bis zum „la“, schon brüllt der Regisseur laut „no“. Eine mit kaum hörbarer Stimme sprechende Actrice behält er.

Wie bei früheren Godard-Filmen könnte man wie der Ton- und Bilddetektiv vorgehen, der Indizien sammelt, sich aber schließlich lächerlich macht, weil er ihnen doch nie Letztbegründungen zu entwinden vermag. Auf den Pakt hat man sich lange Zeit gern eingelassen, weil die Angelegenheit immer exorbitant lustig und materialreich war.

Wenn die kleine Gruppe aber in einem Waldstück landet, wo UN-Soldaten herbeispringen und sie mit vorgehaltenen MGs zum Ausheben eines Grabens zwingen, merkt man, daß Godard sich nicht wehren konnte: Im Gegensatz zu Ophuls, der seinen dreisten Witz und seine Marx-Brothers aufrufen kann, wenn geschossen wird, oder Lévy, der dann zum hohen Ton der politischen Anklage greift, läuft Godards Modus operandi hier in den Stillstand. Die Gefangenen werden an die Wand gestellt, man zieht ihnen die Hosen herunter, sie flüstern sich zu „Hoffentlich lassen sie meinen Hintern in Ruhe“; Mädchen schreien, Explosionen krachen, und schließlich ragt – das erschütterndste, weil so ratlos direkte Bild, was ich je in einem Godard-Film gesehen habe – ein nackter Fuß aus dem offenen Grab.

Was die Leute in Sarajevo aus dem Kino getrieben hat, kann nicht die Erinnerung an die eigenen Bilder gewesen sein, denn dies hier ist ganz bewußt verfremdet, Theater im Wald, auch die Dreharbeiten für „Bolero fatal“ gehen weiter, in Abendgarderobe. Vielleicht war das Unerträgliche die ganz offensichtliche Hilflosigkeit eines Kinoautors, dem der Ausweg in die pompöse Geste („Warten auf Godot“ in der belagerten Stadt aufführen) einfach verstellt ist und dessen Ironie es fast die Sprache verschlagen hat. „Die Armen werden die Welt retten“, stammelt ein Mädchen, die in einem Fluß stirbt, „sich selbst zum Trotz.“ Der Film endet mit einem Klavierkonzert in Paris, bei dem ohne Übergang mehrere Mozartsche Klavierkonzerte für ein paar Takte gemischt werden. Veranstalter und Publikum sehen sich ratlos an. Schießen Sie nicht auf den Pianisten.

Bei solchen Gelegenheiten merkt man, daß die Biennale kein Kind der Trauer mehr sein will. Wenn man abends aus dem Kino tritt, spielen auf dem kleinen Platz am Meer aus Riesenboxen verstärkte Bands, deren Bässe unangenehme Dinge mit den Eingeweiden vorzuhaben scheinen. Mädchen in silbernen Anzügen tänzeln um die Internet-Installation, und die goldenen Pin- up-Skulpturen räkeln sich dir entgegen. Die Jugend Venedigs ist angereist und sitzt mit niedlichen Ringelpullis auf den Treppen und wippt. Im italienischen Fernsehen wird eine Diskussion mit dem georgischen Filmemacher Otar Iosseliani übertragen, die in einem Zelt um die Ecke stattfindet.

Sein Film „Brigands“ (Wettbewerb), eine Art Monty-Python- Zeitreise für georgische Verhältnisse, macht einem klar, daß es doch etwas gibt wie eine osteuropäische Ikonographie. Ähnlich beispielsweise wie bei Emir Kusturicas „Underground“ hat man den Eindruck von geplünderter Requisite: falsche Bärte, Königskronen, Keuschheitsgürtel (mit Ersatzschlüssel), Federhüte, Uniformen, Priesterroben, Strapse – alles wechselt in Windeseile, aber die Protagonisten verhalten sich immer gleich korrupt, opportunistisch, sadistisch, dekadent.

Ein Arzt macht Rattenexperimente. Das bürgerliche Leben ist immer wieder eine Sensation: Dienstmädchen haben, die man herumschicken kann, Völlerei, Klavier spielen, unter glitzernden Lüstern sitzen und dem Lauf der Geschichte von außen beiwohnen, während die anderen in Kriege ziehen oder in Folterkellern landen, das wühlt immer noch auf. Die dreißiger Jahre sind am sexysten. Manchmal rollt ein leerer Rollstuhl gegen einen Bordstein – ihr Menschen, habt ihr nicht etwas vergessen? Mariam Niroumand