: Gewerkschaften verharren in Bunkern
Öffnungszeiten? Zeitstreß? Angebot und Nachfrage sollen zueinander finden ■ Von Florian Marten
Frauen, WissenschaftlerInnen, GewerkschafterInnen und PraktikerInnen aus der Verwaltung brachten die staubige Tristesse des Hamburger Congress-Centrums am Wochenende in kreative Verwirrung: Zwei Tage lang wurden auf Einladung der Gewerkschaft ÖTV unter der wolkigen Überschrift „Zeiten in der Kommune“ konkrete Utopien für Hamburg entwickelt.
Schon 1997 wird in Barmbek-Uhlenhorst als europäischem Modellstadtteil damit begonnen, das Zeitangebot öffentlicher und privater Dienstleistungen mit der Art der Zeitnachfrage koordinieren.
Die Idee hinter den abstrakten Begriffen: Öffnungszeiten von Behörden, Bücherhallen, Kindergärten, Geschäften und anderen Dienstleistern sollen den Bedürfnissen im Stadtteil angepaßt werden. Sabine Issa, die das Modellprojekt beim Senatsamt für die Gleichstellung betreut, denkt noch weiter: „Bei unseren Untersuchungen im Stadtteil haben wir schnell festgestellt, daß es nicht nur um Zeitenkoordination, sondern auch um zusätzliche zeitentlastende Angebote geht, zum Beispiel für erwerbstätige Mütter.“ Issa denkt dabei etwa an Mittagstische für Schüler und Hausaufgabenbetreuung: „Das bedeutet nicht zwangsläufig neue städtische Ausgaben. Hier kann viel durch Selbsthilfe und Vernetzung im Stadtteil geschehen.“
„Die Zeiten, in denen das private und öffentliche Dienstleistungsangebot zur Verfügung stehen“, so resümiert Sabine Issa, „orientiert sich schon längst nicht mehr an der Nachfrage.“ Leitbild für Öffnungszeiten sei offenkundig noch immer an der „tradierten Geschlechterrolle“ ausgerichtet: „Während die Männer arbeiten, besorgt die Frau die Einkäufe, geht mit den Kindern zum Arzt, kocht das Mittagessen und nimmt die Post entgegen.“ Dabei hätten vor allem Frauen längst ganz andere Zeitrhythmen und Tagesabläufe. Mehr als 50% der befragten erwerbstätigen Mütter in Barmbek-Ulenhorst klagten über Zeitstreß. Sie bauen die „alten“ Hausfrauenpflichten in ihr Erwerbsleben ein, verzichten auf Freizeit, Urlaub und Arbeitszeit.
Für den HWP-Wissenschaftler Ulrich Mückenberger, einer der Motoren dieses Zeit-Themas, haben gerade auch die Gewerkschaften geschlafen: „Die Gewerkschaften haben mit dem Zeitthema getan, was sie mit den meisten heißen Themen tun: ignorieren, aussitzen! Sie verharren in Bunker- und Glaubenskriegshaltung, bis die Dinge und Menschen über sie hinwegrollen. Sie haben das Feld der Zeitgestaltung auf breiter Front den Deregulierern, Privatisierern und Marktaposteln überlassen.“
Hamburgs ÖTV-Vorsitzender Rolf Fritsch, der das Zeitthema zu seiner persönlichen Chefsache erklärt hat, verzichete auf öffentliche Kritik an der Gewerkschaft HBV und ihrem Umgang mit dem Thema Ladenschluß, schob die Karte dafür weiter: „In Hamburg beschädigt die strukturkonservative Politik überfällige Veränderungen.“ Immerhin: Das Modellprojekt Barmbek-Uhlenhorst, ein politisches Erbe der einstigen Frauensenatorin Traute Müller, könnte hier ein Zeichen setzen.
Wie das funktionieren kann, zeigen Beispiele aus Norditalien: In Bozen etwa soll noch 1996 ein Zeitbüro eingerichtet werden. Konkrete Erfahrungen mit veränderten Öffnungszeiten bei einem Kindergarten und mit einer Einkaufsstraße liegen bereits vor.
Dabei zeigt sich, daß das Thema Zeit weit mehr für Städte und Menschen bringen kann als bloß ein bißchen weniger Zeitstreß. Die politischen Instanzen müssen für Dialog, Moderation, Beteiligung und Stadtteilbezug sorgen – eine kleine Revolution der politischen Gestaltung bahnt sich an. Und: Wird das Thema Zeit angefaßt, stehen plötzlich auch Verkehr, soziale Dienstleistungen, Geschlechterrolle und Lebensqualität in Frage. Das Thema Zeit, so freute sich Rolf Fritsch, könne so zum Einstieg in jene „ganzheitlichen Ansätze“ werden, mit denen allein Probleme heute noch bewältigt werden können.
Fritsch: „Wir machen weiter.“ Auch Issa – mit Barmbek-Uhlenhorst – und Mückenberger machen weiter. Schon bald wird die Hochschule für Wirtschafts und Politik, unterstützt durch die EU, einen einjährigen Studiengang Zeitpolitik anbieten.
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