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Der Barde der Barden

■ Der Punkrock-Folksinger Vic Chesnutt zieht eine schräge Quersumme aus Kafka, Schnaps und Melancholie

Vor kurzem wurde es für Vic Chesnutt reichlich anstrengend. Der „Punkrock-Folksinger“ (Selbsteinschätzung) mußte innerhalb von Athens/Georgia seinen Umzug bewerkstelligen, nachdem er im Februar diesen Jahres das Haus des REM-Schlagzeugers Bill Berry gekauft hatte. Kein leichtes Unterfangen, schließlich mochte sich der 30jährige nicht von seiner Kaffeedosen-Sammlung – insgesamt rund 50 Stück (alle von derselben Sorte) – samt obskurem Inhalt trennen. „Meine Frau Tina wollte zwar, daß ich den Kram wegschmeiße, aber ich habe mich geweigert.“

Überhaupt ist der ehemalige Literatur-Student und Kafka-Fan („Über zwei Jahre habe ich seine Tagebücher ständig mit mir herumgeschleppt“) keiner, der sich so leicht unterkriegen läßt. Als 18jähriger hatte Chesnutt einen schweren Autounfall, seit 1983 sitzt er im Rollstuhl. Ein verbitterter Knochen ist der hagere Songwriter für Songwriter – zu seinen Fans gehören REM-Sänger Michael Stipe oder Mark Eitzel vom American Music Club – darüber dennoch nicht geworden, was ihm hoch anzurechnen ist. Vielleicht ein wenig sarkastisch, aber wen kümmert's ernstlich, wenn der Vegetarier sein Grollen weiterhin so sympathisch zu verpacken versteht. „Ich bin durch den Unfall kein bedeutend anderer Mensch geworden.“ Er sei wohl vorher schon etwas „strange and weird“ gewesen.

Vier hervorragende Alben, an denen Stipe als Produzent oder Musiker beteiligt war, hat Chesnutt seit 1990 veröffentlicht. Vor 14 Tagen erst Is The Actor Happy? (auf Texas Hotel via Rough Trade), was angesichts seiner vielen Live-Auftritte nicht selbstverständlich ist. Seit fünf Jahren ist Chesnutt fast ununterbrochen auf Tour, unter anderem als Support für Soul Asylum oder Kristin Hersh. „Meine Songs mögen vielleicht Melancholie hervorrufen, automatisch traurig müssen sie deshalb aber nicht sein.“ Die „little ditties“, wie der rauchende Zu-viel-Trinker („Ich schreibe deshalb keine besseren Stücke, aber Alkohol liefert mir eine bestimmte Energie“) seine Country- und Folk-beeinflußten Kompositionen ganz bescheiden nennt, wirken dabei immer etwas verschroben. „Ich kann einfach keine straighten Songs schreiben.“

Und auch keine kommerziellen Hits, wobei es natürlich andersher-um richtig ist: Den chartshörigen Einfallspinseln fehlt es am Willen zur Muße. Ohne weiteres konsumierbar sind Vic Chesnutts Stücke nämlich nicht. „Es braucht etwas Konzentration, weil es keine Musik für Parties ist.“ Allenfalls für höchst merkwürdige.

Clemens Gerlach

Sonntag, 16. 4., Knust, 21 Uhr

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