: Durch das Nadelöhr der Form
■ Premiere des Tanz-Prozesses „Idyll“ von Labor GR AS 888 in der Galerie Barlach
Die Gruppe Labor GR AS 888 experimentiert mit einer radikalen Arbeitsform: Arthur Stäldi, früher Tänzer bei Johann Kresnik, zieht einen Schlußstrich unter den Ausdruck im Tanztheater. Gemeinsam mit Renate Graziadei sucht er nach einer Form der Bewegung, die nichts erzählen will, die nie beendet ist, die in öffentlichen Proben und Aufführungen nur Einblicke gewährt in einen Prozeß.
Am Donnerstag zeigten die beiden die Arbeitsphase 3 dieses Projektes, genannt Idyll. Die Zuschauer in der Galerie Barlach/Halle K sitzen über Eck und haben nie Einblick in alles, was auf der Bühne geschieht. Wie schwebende Teilchen bewegen sich die beiden Tänzer, beiläufig verschwinden sie hinter der Wand oder in der Tiefe des Raumes, ziehen sich an oder stoßen sich ab.
Aus fünf Bewegungsmodulen kreieren sie eine Sprache, die geometrisch und formal anmutet wie die Arbeit von Merce Cunningham oder William Forsythe. Renate Graziadei wirft die Arme über Kopf, klatscht die Hände zusammen und fährt schlängelnd mit ihren Greif-Gliedmaßen am Körper hinunter, um beim Bauchnabel angekommen mit der Hüfte zu kreisen und ein Bein nach hinten zu werfen, das wiederum die neue Richtung vorgibt, weswegen sie sich umdreht...usw. Graziadei tanzt so präzise und eigenwillig, daß es eine Wonne ist, ihr zuzusehen, wie sie Körperprozesse ausbreitet. Arthur Stäldi betrachtet aus den Augenwinkeln die Energie seiner Bewegung, nachdem sie seine Körper verlassen hat, und nimmt sie wie ein Jongleur aus dem Raum wieder zurück in sich.
Komponist K.-H. Schöppner gelingt es, aus der Bastelei mit Elektronik Frequenzen herauszulocken, die tatsächlich eine Spannung miteinander ergeben. Lange läßt er einen Klang stehen, bei dem immer wieder neues herausgehört werden kann: Da steht ein Oberton dahinter, dort scheint in der Ferne ein Rhythmus zu liegen. Der Klang bleibt gleich, es ist der Rezipient, der ihn durch seine Bewegung des Hörens verändert.
Idyll ist noch lange kein ausgereiftes Bühnenwerk. Doch es ist eine mutige Arbeit, die viele Fragen aufwirft: Warum entstehen in meinem Kopf keine Bilder? Ist dieser Tanz noch sinnlich? Wo ist das Nadelöhr der Form, durch das der Sinn sich einfädelt? Hat das gescheiterte Experiment der seriellen Musik nicht gezeigt, daß Ton ohne emotionale, sinngebende Komposition eben nicht zu Musik wird? Können die Tänzer mit ihrer ähnlichen Arbeitsweise, dem Transformieren von Bewegungsmodulen, diesem Dilemma entgehen?
Antworten und weitere Fragen ergeben sich vielleicht in der nächsten Phase, in der weitere Tänzer dazustoßen sollen.
Gabriele Wittmann
Noch heute und morgen, 21 Uhr, Halle K, Klosterwall 13
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