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Alle waren im Bilde, keiner sprach es aus: Boris Jelzin hatte vor seiner Wiederwahl einen dritten Herzinfarkt. Noch ist unklar, wann er operiert wird. Die permanente Verschwörung gegen die Wahrheit sollte den Machtkampf um sein Erbe hinauss

Alle waren im Bilde, keiner sprach es aus: Boris Jelzin hatte vor seiner Wiederwahl einen dritten Herzinfarkt. Noch ist unklar, wann er operiert wird. Die permanente Verschwörung gegen die Wahrheit sollte den Machtkampf um sein Erbe hinausschieben

Auf dem Operationstisch der Nation

Zwei Monate brauchte der Kreml, um zuzugeben, was alle Welt längst vermutete: Boris Jelzin ist schwerkrank. Aus der Not noch eine Tugend machend, verkündete der neue Präsidialamtschef Anatolij Tschubais, man wolle über den Gesundheitszustand des Präsidenten künftig offener berichten.

Der Freimut belegt weniger den Beginn einer transparenteren Politik als die verzweifelte Lage, in der sich die russische Regierung derzeit befindet. Am Ende ließ sich nichts mehr verbergen. Aber weder die Medien noch die Politiker der Opposition erzwangen den Offenbarungseid. Die sich täglich verschlechternde Verfassung des Staatsoberhauptes nötigte seine Umgebung, eiligst zu handeln. Professor Renat Aktschurin vom Kardiologischen Zentrum in Moskau, der vorige Woche bestätigte, Jelzin habe kurz vor dem zweiten Wahlgang Ende Juni einen Herzinfarkt erlitten, riet seinem Patienten schon im August, eine Klinik im Westen aufzusuchen. Selbst zu operieren, lehnte er damals ab. Zur Verwunderung seiner Kollegen willigte er Wochen später ein.

Seit Montag blieb Aktschurin wegen eines leichten fiebrigen Infekts seiner Arbeit fern. Gerüchte kursieren, russische Ärzte sträubten sich, den Eingriff vorzunehmen. Die Operation wird auf jeden Fall vorgenommen, so wurde gestern bekannt. Doch wann das geschwächte Herz des Präsidenten operiert werden kann, darüber soll der 88jährige US-Amerikaner Michael DeBakey urteilen, der Guru aller Herzchirurgen. Voraussichtlich wird der Eingriff noch um einige Wochen verschoben, bis sich die Herzmuskelverspannungen gelegt haben.

Nachdem Aktschurin das Geheimnis des dritten Infarktes gelüftet hatte, fiel der Kreml wieder in die alten Gepflogenheiten zurück. Infarkt? Bisher gebe es keine Anhaltspunkte ... Selbst die russischen Medien brauchten zwei Tage, um die Nachricht in abgeschwächter Form ins Volk zu tragen.

Worauf beruht die permanente Verschwörung gegen die Wahrheit? Moskau nennt ethische Prinzipien, die es verbieten, sich in die Angelegenheiten des Präsidenten einzumischen. Ein ehrenwertes Ansinnen. Doch die ethischen Begründungen reichen nicht aus und sind eher fadenscheinig. Die Geheimhaltung hat die Persönlichkeitsrechte des Präsidenten nachhaltiger verletzt als ein offenes Wort zur rechten Zeit. Jetzt liegt Patient Jelzin auf dem Operationstisch der Nation.

Natürlich befürchtete die Führung, das Hauen und Stechen um das Erbe würde losbrechen, sobald Klarheit herrsche, daß der Präsident monatelang seine Pflichten nicht wahrnehmen könne. Sollten die einflußreichsten Politiker den Ernst der Krankheit nicht begriffen haben? Präsidialamtschef Tschubais und Premierminister Viktor Tschernomyrdin sahen ihren Chef regelmäßig, auch Sicherheitsratssekretär Alexander Lebed war wohl nicht ganz ahnungslos. Sie alle haben sich im Laufe der letzten Wochen in die Startlöcher um die Nachfolge begeben, während Tschubais stellvertretend für Jelzin noch das Staffelholz hochhält und seine Kompetenzen auf Kosten des Premiers erweitert.

Rußland ist keine Diktatur, im Gegenteil in vielerlei Hinsicht sogar eine Demokratie mit anarchischen Momenten. Um so verblüffender, daß die Wahrheit um den Herzmuskel solange unter Verschluß gehalten werden konnte. Weder wurde Gewalt angewendet noch mit Repressionen gedroht. Die Enthüllung rief nicht einmal die Opposition auf den Plan, halbherzig schickt sie sich nun an, ein wenig Kapital daraus zu schlagen.

„Wen täuscht man hier? Jedermann ist in dem Komplotte!“ stellte ein Rußlandreisender im 19. Jahrhundert erstaunt fest, als er bemerkte, daß die Wirklichkeit und ihre wortreiche Beschreibung im Zarenreich nicht übereinstimmten. Konsterniert registrierte er: Litt der Autokrat doch an einer Erkältung, verstieß es dennoch gegen die gute Sitte, ihm baldige Genesung zu wünschen. Der Herrscher konnte per definitionem nicht kränkeln. Kurzum, alle waren im Bilde, aber keiner sprach es aus. Rußland hat sich auch diesmal verschworen, die Insuffizienz seines Zaren für sich zu behalten: die Mehrheit der Wähler, Politiker und die Presse gleichermaßen. Daher reagiert das Land eher gelassen.

Mit Jelzins Wiederwahl im Juli verbanden die Bürger keine Hoffnung auf einen energischen Reformstoß, kaum jemand traute ihm das noch zu. Jelzin verkörperte als Symbol das andere, nichtkommunistische Rußland. Die Wähler hofften, der Präsident würde wenigstens für vier Jahre eine gewisse Stabilität garantieren. Zur Zeit spielt Jelzin, für ihn sehr ungewohnt, nur eine dekorative Rolle. Bisher erwies er sich als genialer Machtpolitiker, dem es immer wieder gelang, um sich herum ein Machtgefüge zu kreieren, das seine Position nicht gefährdete. Er war es, der der politischen Elite trotz aller Schwächen seinen Willen diktierte. Nicht zuletzt 1993 durch die neue Verfassung, die ihm auf den Leib geschrieben wurde. Diese Verfassung strich auch das Amt des Vizepräsidenten, der die Amtsgeschäfte nun hätte übernehmen können. Sollte der Präsident nicht wieder zu Kräften kommen, werden die verschiedensten Interessengruppen, von den Regionen über die Staatsduma bis hin zur Regierung, danach trachten, ihren alleinigen Nutzen daraus zu ziehen.

Erheblicher Druck wird von Institutionen ausgehen, deren Status nicht eindeutig festgelegt ist. Dazu zählt der Sicherheitsrat, dem Alexander Lebed vorsitzt. Seit dem Wahlerfolg im Juni hat er mehrfach unverhohlen Ansprüche auf den Thron angemeldet. Seine Macht reicht weiter, als es die Funktion des Amtes nahelegt. Desgleichen gilt für die Administration des Präsidenten. Anatolij Tschubais ist ein hochintelligenter und nüchterner Politiker der jungen Generation, dem es nicht im Schlaf einfiele, um die Gunst der Wähler zu ringen; er entspricht nicht im entferntesten der russischen Vorstellung von einem „Lider“. In den ersten Wochen seiner neuen Tätigkeit bastelte er erfolgreich daran, der Regierung Kompetenzen streitig zu machen und die wirtschaftspolitischen Entscheidungen im Präsidialamt zu bündeln. Mehrfach kollidierte er mit Premier Viktor Tschernomyrdin, der sich bereits nach Verbündeten für den Fall einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl umschaut. Die Kommunisten, die sich von ihrer Niederlage im Sommer nicht erholt haben, scheinen sogar bereit, mit ihm zu marschieren.

Tschubais hegt großes Interesse, Jelzin die Zügel nicht entgleiten oder entreißen zu lassen. Zwar sieht die Verfassung eine Art Regierungsuntauglichkeit des Präsidenten vor, für deren Dauer der Premier dessen Aufgaben vorübergehend wahrnehmen kann. Doch nirgends wurde definiert, wie sich dieser Zustand äußert, wann er eingetreten ist und wer ihn festzustellen hat? Nur im Todesfall oder im Falle eines Rücktritts stehen binnen drei Monaten Neuwahlen an. Noch neutralisieren sich die unterschiedlichen Machtzentren gegenseitig. Scheidet der oberste Schiedsrichter indes aus und hält der Zustand an, könnte das Kräfte aus anderen Ebenen der Macht auf den Plan rufen, die bisher noch nicht in Erscheinung getreten sind.

Boris Jelzin scheint sich der Gefahren bewußt zu sein. Letzte Woche übertrug er Premier Tschernomyrdin bereits einen Teil der Vollmachten und die Verfügung über den Nuklearkoffer mit dem „roten Knopf“. Eine eindeutige Geste, mit der der Präsident unterstrich, wen er an seiner Stelle sehen möchte, wenn ihm das Schicksal nicht hold ist. Klaus-Helge Donath, Moskau

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