: Störche aus der Astralwelt?
Waldorfschulen lehnen moderne Sexualkunde ab. Über Verhütung und Abtreibung will man nicht zu früh sprechen. Auf eine Forschungsreise ging ■ Kirsten Niemann
Lustfeindlich sollen sie sein. Prüde bis zum Abwinken. Dient Sex den Anthroposophen womöglich nur zur Vermehrung? Oder warum werden an Waldorfschulen keine nackten Menschen gezeigt? Für Nichteingeweihte endet die Forschungsreise unter anthroposophische Bettdecken erst mal vor den Regalen der Steinerbibliothek. Und was da zum Thema Kindermachen steht, verwirrt den Neuling. Vom „Astralleib“ ist da die Rede. Von der Seele, die vom Jenseits aus ein passendes Elternpaar aufstöbert. Wenn Mama und Papa sich sehr liebhaben, sprechen die Steiner-Schriften davon, daß „ein zur Seelen-Astralwelt stimmender Lebens-Äther und physische Körperlichkeit“ zusammenkommen. Und was dabei wirke, seien „Wesenheiten“, die man auch „Volksgeister“ nennt.
Volksgeister? Reinkarnation mit Hilfe des Klapperstorchs? Was um Himmels willen erzählen die bloß ihren Kindern? Sexualkundeunterricht, wie er an staatlichen Schulen seit Anfang der siebziger Jahre Pflicht ist, haben die Waldörfler nicht im Programm. Offenbar sind sich hier alle einig: Nackedeis und Fotoromane wie in der Teenie-Gazette Bravo gelten als schädlich. Weil sie über die Sache nur rein intellektuell aufklären. Das anthroposophische Standardwerk zur „Geschlechtlichkeit des Menschen“, das 1989 im Verlag Freies Geistesleben erschien, nennt die Dinge beim Namen. Schwierig wird's etwa beim Thema Abtreibung. Denn wenn die Seele schon bei der Befruchtung in den Embryo schlüpft, rückt ein Schwangerschaftsabbruch gefährlich nahe an den Mord.
Auch mit Verhütungsmitteln tut man sich hier schwer. Für junge Frauen lehnt das Handbuch die Pille ab, da über ihre Nebenwirkungen zu wenig bekannt sei. Auch bei Lümmeltüten und Patentex Oval fürchtet man „Beeinträchtigungen der Gesundheit“. Da wäre noch die Knaus-Ogino-Methode, die wiederum „nur Ehepaaren zu empfehlen“ sei. Was bleibt den Kids? Enthaltsamkeit.
Geistestiefe durch Verzicht – ein Tip, der sich in Anthroposophenkreisen offenbar großer Beliebtheit erfreut. So traut sich Wolfgang Gädeke, Priester der anthroposophisch orientierten „Christengemeinschaft“, in den Flensburger Heften zum Thema Partnerschaft Fragen zu stellen, die schon vor 100 Jahren veraltet waren: „Hat die Frau einen Trieb?“ Eigentlich nicht, erfahren wir, zumindest keine sexuelle Begierde wie der Mann. Ob es überhaupt einen weiblichen Orgasmus gibt, bezweifelt der Priester. Und schließlich wird den Frauen untergejubelt, ihre wahre Befriedigung liege im Kinderkriegen.
Unterhaltsamer wird's bei der Autorin Almut Bockemühl. Wer weiß schon, daß Sigmund Freud an der Sexwelle schuld ist, die von Amerika nach Europa schwappte? Auch daß „der sogenannte Mutterinstinkt tiefer im weiblichen Menschen verwurzelt ist als der Geschlechtstrieb“, behauptet die 66jährige kühn und warnt vor zu früher Sexualaufklärung: „Daher ist Beschweigen doch oft die bessere Lösung als zu vieles Besprechen.“
An der Berliner Waldorfschule an der Clayallee ist man dann bereit zum klärenden Gespräch. Eine Expertenrunde zum heiklen Thema wird einberufen: Peter Tradowsky, leitender Mitarbeiter der Anthroposophischen Gesellschaft Berlin, hat Eltern und Kolleginnen zum Interview geladen. Und lieber als von Sexualkunde sprechen die von Verantwortung in Beziehungen, von den feineren Gefühlen eben. Ursula Ibbekinn, Geschäftsführerin der Rudolf-Steiner- Schule in Dahlem, überläßt die Geschichten über die Fleischeslust lieber den Eltern, „weil die am ehesten ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt haben“. Schließlich sollte man bei der Aufklärung immer auf den individuellen Entwicklungsstand des Kindes eingehen, und der sei ja in einer Klassengemeinschaft nicht bei allen Kindern gleich. Man wolle den SchülerInnen ihre Kindlichkeit noch möglichst lange erhalten. „Den Kindern der Unterstufe erzähle ich immer Märchen. Wenn zwei Leute sich lieben, dann kriegen sie ein Kind“, erklärt Frau Ibbekinn. „Ich betone das immer ganz stark, daß sich da zwei lieben und durch dick und dünn miteinander gehen.“
Schulärztin Dr. Carola Hahn sieht die Sache ähnlich. Sie befürchtet, die Kinder nur zu verschrecken, wenn man sie zu früh mit allen Einzelheiten konfrontiere. Auf die Frage, wie das Kind in den Bauch der Mutter gelangt, reiche in der Regel die Antwort: „Weil wir es so gewünscht haben.“ Peter Tradowski unterrichtet in Dahlem die Oberstufe. Er würde, wie er meint, „Eulen nach Athen tragen“, wenn er denen „das rein Technische“ erkläre: „Die wissen ohnehin Bescheid.“
In der Praxis des Schulalltags sieht die Welt der Anthroposophen offenbar nicht ganz so öde aus, wie die verstaubte Theorie vermuten läßt. Auch Peter Tradowsky weiß, daß „man nicht hinterm Mond lebt, sondern in Berlin“. Natürlich hält man nichts von Abtreibung. In der Regel bemühe man sich, einer schwangeren Schülerin das Abitur zu ermöglichen und sie das Kind auch austragen zu lassen.
„Sollte sich ein Mädchen dann doch für den Abbruch entscheiden, würden wir sie niemals verurteilen. Wir wissen doch alle, daß Tabuisierung nur zu Verlogenheit führt“, meint er.
Ob man vielleicht mal bei Priester Gädeke anrufen sollte und ihm erzählen, wie so ein weiblicher Orgasmus sich anfühlt? Vielleicht würde er sich ja freuen.
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