: Die deutschen Schriftsteller und Intellektuellen sind jäh erwacht. Drei Monate nachdem die Rechtschreibreform definitiv beschlossen wurde, gehen sie gegen die Neuregelung auf die Barrikaden. Der späte Protest hat überraschend großen Zulauf.
Die deutschen Schriftsteller und Intellektuellen sind jäh erwacht. Drei Monate nachdem die Rechtschreibreform definitiv beschlossen wurde, gehen sie gegen die Neuregelung auf die Barrikaden. Der späte Protest hat überraschend großen Zulauf.
„Orthographischer Terrorismus“
„Terrorismus durch Orthographie“ nennt der Weilheimer Gymnasiallehrer Friedrich Denk die geplante Rechtschreibreform. Die GSG 9 zur Abwehr des vermeintlichen Anschlags auf die deutsche Sprache hat er schon formiert: Eine stündlich wachsende Phalanx von Schriftstellern, Intellektuellen und Journalisten hat sich von Denk mobilisieren lassen und schärfste Kritik angemeldet (siehe Kasten). Zum Ende der Frankfurter Buchmesse wurde ihre gemeinsame Protesterklärung gegen die Rechtschreibreform verkündet. Zu den Unterzeichnern gehören auch die Schriftsteller Günter Grass, Martin Walser, Ilse Aichinger und Siegfried Lenz.
Mit 27 Autoren habe er telefoniert, 25 hätten spontan zugesagt, berichtet Denk. Und ständig würden sich mehr Prominente dem Protest anschließen. Auch Bundesfinanzminister Theo Waigel soll dem Initiator versichert haben, daß er die Reform für falsch halte. Der CSU-Spitzenmann habe es dann aber abgelehnt, den Aufruf zu unterzeichnen. „Wir brauchen nur einen namhaften Politiker, der sich dagegen ausspricht, dann kippt die Sache“, erklärte Denk. Am Montag war indes von Waigel nichts zu hören, dafür begründeten die Schriftsteller in Interviews ihre Kritik.
Die kommt allerdings so spät, daß sich Gerhard Stickel, Leiter des Instituts für Deutsche Sprache, an den Kopf faßt und an der „doch eigentlich wachen Wahrnehmung“ der Schriftsteller zweifelt. Seit 20 Jahren werde die Rechtschreibreform vorbereitet, und gerade in den letzten beiden Jahren sei intensiv darüber diskutiert worden. Aber erst jetzt, nachdem „alles beschlossen“ sei, meldeten sich die Schriftsteller zu Wort. „Wir haben nicht im geheimen Kämmerlein Unheil ausgebrütet, wir haben immer offen diskutiert“, wehrt sich Stickel gegen die Frankfurter Erklärung.
Tatsächlich wurde die geplante Reform — sie reduziert die Kommaregeln von 52 auf 9 und die Orthographieregeln von 212 auf 112 — schon im Juli von Österreich, der Schweiz, Südtirol, Liechtenstein und der Bundesrepublik beschlossen. Formeller Start der neuen Schreibregeln ist zwar erst der 1. August 1998, aber in nicht weniger als acht Bundesländern ist die Umstellung bereits angelaufen, lernen die ABC-Schützen bereits die neuen Regeln.
Auch die einschlägigen Lexika sind längst gedruckt. Bertelsmann rechnet bis Jahresende mit dem Verkauf von einer Million Exemplare, der neue Duden wird bis dahin sogar mehr als zweimillionenmal über den Ladentisch gehen.
„Es gibt kein Zurück mehr, wir würden uns ja lächerlich machen“, sagt Joachim Neuser, Sprecher des nordrhein-westfälischen Bildungsministeriums, das bei der Reform federführend ist. Neuser wirft den Autoren „Unkenntnis“ und „Angst vor dem Neuen“ vor. Tests hätten gezeigt, daß die Schüler nach den neuen Regeln tatsächlich weniger Fehler machen. Die Rechtschreibung werde übersichtlicher, logischer und insgesamt leichter handhabbar. Neuser: „Wir stehen zu der Reform. Vor einem Jahr wäre die Schriftstellererklärung wichtig gewesen, jetzt kommt sie zu spät und in Unkenntnis der Dinge.“
Kernpunkt der Schrifstellerkritik sind die Kosten der Reform. Alles in allem sei die Umsetzung mehr als eine Milliarde Mark teuer, behauptet Denk. Den Preis zahlten Verbraucher und Kleinverlage; positiv sei die Reform nur für die, die an ihr verdienten: Druckereien, Lexikon- und Schulbuchverlage.
Sprachwissenschaftler Stickel nennt diese Schriftstellerhochrechnung „völligen Unsinn“. Die bisherigen Schätzungen variierten zwischen 30 und 300 Millionen Mark. Das alles seien allerdings weitgehend freihändige Kalkulationen. Eine exakte Schätzung sei unmöglich. Stickel: „Die Schulbücher werden ohnehin alle sechs Jahre neu überarbeitet, da gibt es keine zusätzlichen Kosten.“
Wolfgang Balk vom Deutschen Taschenbuch-Verlag ist einer der wenigen Verleger, der sich dem Protest angeschlossen hat. Die meisten Bücher, die auf der Buchmesse vorgestellt wurden, seien jetzt schon überholt, sagt er. Viele Titel, die nur eine Minderheit interessierten, würden nicht mehr neu aufgelegt. Das sei ein Verlust an Kultur. Balk befürchtet, daß bei der künftigen Rechtschreibung mit mehreren zulässigen Varianten in ein und demselben Buch verschiedene Schreibweisen auftauchen, weil der eine Korrektor diese Variante umsetze und der zweite eine andere. „Es könnte sich herausstellen, daß dies die größte Ente des Jahrhunderts ist.“
Daß die „Frankfurter Erklärung“ erst jetzt verabschiedet wurde, erklärt Protestinitiator Denk mit der „mangelnden Informationspolitik“. Das Ganze sei klammheimlich durchgezogen worden. Erst jetzt – nach Erscheinen der Lexika und Regelwerke – seien die Folgen in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar. „Vorher haben wir doch alle geglaubt, es ginge nur um Gemse und Gämse.“ Susanne Gabriel/Manfred Kriener
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen