: Ein Kaufhaus als Abbild der Politik
Die Parlamentswahlen am Sonntag stoßen in Japan auf wenig Interesse. Die Zwänge des urbanen Lebens bestimmen die Ansprüche an die Parteien. Hoffnung auf Veränderung gibt es kaum ■ Aus Tokio Georg Blume
Wenige Tage vor den Parlamentswahlen, die am Sonntag über die Zukunft der japanischen Politik entscheiden werden, gibt es in der Hauptstadt Tokio ein neues Stadtgespräch. Das Thema hat nichts mit Parteien und Politik zu tun. Im pompösen Wolkenkratzerviertel Shinjuku, dem Zentrum aller Zentren in der 30- Millionen-Stadt, hat ein neues Kaufhaus eröffnet, vornehmer und verspielter als alles, was die Konsumwelt bisher zu bieten hatte. Die Tokioter kommen aus dem Staunen nicht mehr raus: Auf vierzehn Etagen drängen sich feinste Designerläden neben internationalen Speiselokalen. Ein mehrstöckiges Computerspielzentrum, Marke Sega, zieht die junge Stadtschickeria an, Familien strömen ins benachbarte 3D-Theater. Selbst die Treppengeländer aus beigem Kunstmarmor verraten die Investitionskosten von über zwei Milliarden Mark, die nötig waren, um der herkömmlichen Vorstellung von einem Einkaufszentrum ein Schnippchen zu schlagen.
Am Wochenende folgen 600.000 Tokioter der neuen Verlockung. Kein Baseballspiel, kein Sumo-Kampf und erst recht keine politische Veranstaltung hat in den letzten Jahren so viele Menschen an einem Ort der Hauptstadt zusammengebracht. Unter den Schaulustigen befindet sich am Samstag abend die Familie Kagehira: Teirumichi ist 30 Jahre alt und Angestellter einer großen Firma. Seine Frau Yukiko, 29, hat den Beruf aufgegeben, um sich der zweijährigen Tochter Akari zu widmen, die nun auf der dem „Jardin de Luxembourg“ in Paris nachgestellten Dachterrasse des Kaufhauses fröhlich über Stühle und Tische turnt.
Der Familie bietet sich dort oben ein herrlicher Blick. Der Sonnenuntergang über der Riesenmetropole läßt die Umrisse der in 50 Kilometer Entfernung gelegenen Bergkette nördlich des Fudschijama erkennen. Davor breitet sich unter den Augen der Terrassengäste das unendliche Häusermeer der Hauptstadt aus. Als Teirumichi und Yukiko so alt wie ihre Tochter waren, hätte ihr Blick an einem ähnlichen Tag von Shinjuku nicht einmal bis zum nahen Kaiserpalast gereicht. Tokio gehörte damals zu den Städten mit der stärksten Luftverschmutzung in der Welt. Heute aber ist die Luft wieder klar und die Sicht frei. Was die Menschen an Giften einatmen, ist durch Katalysatoren und Filter längst unsichtbar gemacht. Läßt sich auf den Dächern der Stadt also wieder an die Zukunft glauben?
Teirumichi winkt ab. „Tokio ist schön anzuschauen, aber nicht gut zum Leben“, protestiert er. Der Vater trägt zu den blauen Edwin- Jeans ein hellbraunes Jackett und gelbe Mokassins. Für den normalen Angestellten in Japan war es bis vor kurzem durchaus üblich, auch beim Wochenendausgang den Anzug überzustreifen. Heute deutet eine modebewußtere Kleiderwahl der Männer auf ein neues Bewußtsein, das Freizeit und Arbeit als getrennte, miteinander rivalisierende Welten begreift. Nicht alles im Leben des Mannes konzentriert sich mehr auf die Firma. Das schafft, oft unbewußt, neue politische Ansprüche.
„Wer immer auch in Japan die Macht ergreift, es ändert sich nichts“, schimpft Teirumichi. Einen Teil der Schuld dafür gibt er dem Verhältnis zu den USA. Japan wage es nicht, der Siegermacht aus dem Zweiten Weltkrieg die Stirn zu bieten. Das Land verfüge über keine eigenständige Politik. Viel konkreter kann Teirumichi sein Unbehagen nicht ausdrücken. Es klingt, als habe er erst gestern bemerkt, daß aufgrund des ewigen Regierens der Liberaldemokraten etwas schiefläuft. Diese Ratlosigkeit unter jungen Männern ist typisch: Auf ein eigenes politisches Urteil wurden sie von ihren Vätern genausowenig vorbereitet wie auf ihre Pflichten in der Familie.
Doch Teirumichi verschließt sich nicht. Nicht nur den Büroanzug hat er ausgetauscht. Er überläßt Yukiko das politische Gespräch, um sich ganz dem Spiel mit dem Kind zu widmen. Generationen seiner Vorväter hätten in solchem Verhalten einen Gesichtsverlust des Mannes erblickt. „Frau im Hinterzimmer“ lautet wörtlich übersetzt der noch heute gebräuchliche Begriff für die japanische Ehefrau.
Dennoch verrät Teirumichis zuvorkommende Geste gegenüber Frau und Kind mehr über die politischen Veränderungen in Japan als jedes Parteiprogramm. Obwohl keine Partei, die sich am Sonntag zur Wahl stellt, die Sache der Frauen vertritt, hat das eigenständige Wahlverhalten des anderen Geschlechts in Japan alle wichtigen Wahlen der 90er Jahre entschieden. Früher stimmten Japans Frauen schlicht für die Partei, die ihr Mann wählte. Heute wählen sie sich nicht nur den Ehemann, sondern auch ihre Partei selbst aus. Deshalb bilden Frauen den größten Teil der Wechselwähler, um die alle Parteien buhlen.
„Ich will mit meiner Stimme am Sonntag den Niedergang der japanischen Wirtschaft stoppen und zum transparenteren Gebrauch der Steuergelder beitragen“, setzt Yukiko an. Die Klarheit ihrer Ansprüche hebt sich deutlich von den eher vagen Formulierungen ihres Mannes ab. Um so schwerer fällt Yukiko die Einsicht, daß die Wahlentscheidung auch für sie nicht leicht ist. Einen Hoffnungsträger für Reformen wie die ehemalige Sozialistenchefin Takako Doi oder den vor drei Jahren gescheiterten Premier Morihiro Hosokawa gibt es diesmal nicht. „Ich wünschte mir, wir könnten wie die Amerikaner in direkter Wahl unseren Premierminister bestimmen. Dagegen erscheinen die Kandidaten, für die wir stimmen, belanglos“, klagt Yukiko.
Im übrigen fällt es den Kagehiras schwer, sich unmittelbare Hilfe von der Politik zu versprechen. Teirumichi muß jeden Tag drei Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln für den Arbeitsweg verwenden. Doch in einem Land, wo schon die Superschnellzüge im Drei-Minuten-Takt verkehren, gibt es kaum Hoffnung auf Verbesserung der öffentlichen Verkehrswege. Nur das U-Bahnnetz kann in Tokio noch erweitert werden, neue Gleisverlegungen für die S-Bahn sind in der Enge undenkbar.
Yukiko sorgt sich am meisten um das Schulsystem, das in den höheren Jahrgängen nur noch auf das Auswendiglernen für die rigiden Zulassungsprüfungen der Universitäten ausgerichtet ist. Andererseits ist Akari erst zwei Jahre alt, und Kindergarten-, Vor- und Grundschulversorgung sind in Japan im Vergleich mit anderen Industrieländern vorbildlich. Yukiko weiß das, doch sie gibt sich nicht zufrieden: „Dieses Kaufhaus ist wie ein Abbild unserer Politik. Nach außen wirkt es großartig, und alles wird getan, um die Menschen zu verführen. Im Inneren aber ist es leer, und was zu kaufen sinnvoll wäre ist zu teuer.“
So einfühlsam betrachten nur wenige Japaner die Politik ihres Landes. Die Kaufhausgäste haben andere Dinge im Sinn: Das schnelle Vergnügen, der gelungene Kauf versprechen Abwechslung vom monotonen Arbeitsalltag. Die Politik bietet das nicht: Ihr Unterhaltungswert in Japan ist gering, die Programme der Parteien gleichen sich, nur die Kommunisten machen eine Ausnahme und werden deshalb als einer der möglichen Wahlgewinner gehandelt.
Wem das Gespür für die kleinen Veränderungen im Alltag fehlt, den treibt die politische Lage leicht zur Verzweiflung: „Die Japaner sind zu reich“, urteilt der Schriftsteller Makoto Shiina. „Auch wenn man nicht zur Wahl geht, gibt es keinen Krieg und keine Gefahr, daß man weniger verdient. Das führt zum Desinteresse an der Politik.“ Richtig daran ist, daß die Politikverdrossenheit alle Schichten durchläuft. So kann man im alten Tokio der Arbeiterschaft der gleichen Gleichgültigkeit begegnen wie im ultramodernen Shinjuku.
Shitamachi – „untere Stadt“ – nennt sich der alte Industriebezirk im Osten der Hauptstadt. Hier tragen die Männer nur am Wochenende Anzüge, die sie wochentags mit dem Blaumann wechseln. Am Sonntag sind die Altstadtgassen belebt. Die Wettbüros der Pferderenn-Lotterie haben geöffnet. Abertausende von Arbeitern strömen durchs rotleuchtende Schreintor des Donnergottes, der Passierstelle zu den Wettbüros.
„Diejenigen, die in der Gesellschaft untern stehen und schwach sind, kommen zur Pferderenn-Lotterie“, erklärt Kanji Sakakibara, 47, seinen Sonntagsausflug. Kanji ist Angestellter einer Gaststätten- Zweigstelle, die von der Schließung bedroht ist. „Japan wird zu schwach. Wir wissen nicht mehr, was wir wollen“, klagt Kanji. Doch auf weitere Kritik wartet man vergeblich. „Besser kann's nicht mehr werden, aber kann es schlechter werden?“ bringt der bedrängte Angestellte die wirtschaftliche Lage Japans auf den Punkt. Diese Nüchternheit zeichnet viele Wähler, unabhängig von ihrer Lage, aus. Es scheint, als gelänge es ihnen, an der Politik gerade dann nicht zu verzweifeln, wenn diese zum Verzweifeln allen Anlaß bietet.
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