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Eine Haßkappe in der Hardangervidda

Zwischen Schneesturm und Nordlicht: Skiwandern in Skandinavien hat viele Reize  ■ Von Sven-Michael Veit

Wenn Rüdiger I die Haßkappe aufsetzt, wird's ernst. Er hat eine seidene, ohne Mundöffnung, und er ist davon überzeugt, daß sie seine zarten Wangen vor der Unbill des Wetters zu schützen vermag. Und die ist nicht zu leugnen: Wir würden sicher schnell übereinkommen, daß wir uns in einem Schneesturm befinden, würden wir uns mit Worten noch verständigen können.

Vor etwa einer Stunde haben wir bemerkt, daß sich am Horizont unangehm schwarz-graue Wolken zu ballen beginnen. Dennoch liefen wir weiter. Wir sind ja zu sechst, wir meinen, den Weg zu kennen, und bis zu der großen Hütte am See, die uns im Notfall Schutz bieten würde, kann es so weit nicht mehr sein. Daß wir sie nicht finden werden, ahnen wir nicht.

Skilanglauf in Skandinavien, keine Frage, hat seine Reize. Das Pauschal-Hotel in Wintersportorten wie dem schwedischen Åre oder der norwegischen Olympiastadt Lillehammer mag so einer sein, maschinell gespurte Loipen mit Flutlicht für den Abendspaziergang inclusive. Andere bevorzugen es, sich ihren Weg durch Schnee und Eis selbst zu suchen: Tagestouren auf eigene Faust mit Kompaß und Karte oder auch mehrtägige Wanderungen von Hütte zu Hütte über das Gebirge, bepackt mit Rucksack, Kochgeschirr und Spaten.

Wir haben keinen mit. Wozu auch, wir kennen es doch wie unsere Westentasche, „unser“ Tal in der norwegischen Hardangervidda, der größten Hochgebirgsebene Europas. Viele von uns fahren regelmäßig hierher, jedes Jahr im März, in das Höyfjellseter, in dem wir zwei Wochen lang in einer 20- bis 30köpfigen WG zu hausen pflegen. Wir kennen schließlich jeden Busch in unserem einsamen Tal, wo die Schotterpiste endet, die hierzulande als Straße gilt. Auch die karge, strauchlose Hochebene oberhalb des steilen Hangs hinter dem Seter, über die man tagelang laufen kann, ohne eine Menschenseele zu treffen, haben wir schon häufig auf Brettern durchstreift.

Meist bei schönem Wetter allerdings, doch davon kann heute keine Rede sein. Der Sturm peitscht Eiskristalle ins Gesicht, die erstaunlich scharf sind. Am Abend werde ich feststellen, daß meine Wangen voller kleiner Risse und Schnitte sind. Rüdiger I prustet unter seiner Haßkappe ohne Mundöffnung, er bekommt kaum Luft. Was tut man nicht alles für eine schöne Haut.

Die Sicht liegt bei zehn Metern, die Kontraste verschwimmen. Ob das Gelände eben ist oder eine tückische Bodenwelle deiner harrt, weißt du erst, wenn du schon der Länge nach im Schnee liegst. Alles weiß, bis auf fünf rote Anoraks. Nah zusammenbleiben, bloß nicht aus den Augen verlieren.

Mir kommt die Geschichte in den Sinn, die ich abends am Kamin im Seter schon so oft – und in immer neuen Varianten – gehört habe: Vor ein paar Jahren mußten Anna, Michael und Reinhard sich ein Schneeloch graben, um den Sturm zu überstehen, der sie oben im Gebirge überrascht hatte. Erfolglos hatten sie die kleine Schutzhütte gesucht, die am Wegesrand liegt. Am nächsten Morgen, als der Sturm vorüber war, stellten sie fest, daß sie mehrfach im Kreis um die Hütte herumgelaufen waren; sie lag keine 400 Meter entfernt. Aber da hatten sie bereits die Nacht auf ihren Isomatten in einer eilig ausgehobenen Kuhle verbracht, sich gegenseitig wärmend, unter einem provisorischen Dach aus Skiern und Plastikplane. Die hatten eben einen Spaten dabeigehabt.

Gestern, an einem strahlenden Tag, war ich allein vom Tal aufs Fjell hinaufgestiegen, weit hinter die Baumgrenze. Die Wintersonne knallte, der Schnee glänzte so intensiv, daß ich der Gletscherbrille zum Trotz zwinkern mußte. Die Weitsicht war berauschend gewesen, am Horizont glänzte Hardanger-Jökulen, einer der größten Gletscher Norwegens, mehr als fünfzig Kilometer Luftlinie entfernt.

Auch die Tiere hatten den warmen Tag genossen. Mehrmals flatterten Schneehühner erschreckt vor mir auf, Hasen und Füchse hatten Spuren hinterlassen. Die großen runden Abdrücke von Tatzen verreiten, daß vor nicht langer Zeit ein Luchs hier herumgestreunt war. Am wolkenlosen Himmel kreiste gemächlich ein Adler, an einem Hang scharrte ein Rudel Rentiere nach Moosen und Flechten.

Spätabends waren grünliche Wellen strahlenförmig über die Hügel gewabert: Nordlicht. Fasziniert hatten wir das Schauspiel beobachtet. Nur Rüdiger II hatte was von „Wetterumschwung“ in seinen Bart geknurrt. Niemand glaubte ihm.

Barbara hat nicht nur eine scharfe Zunge, sondern auch scharfe Augen. Sie erkennt als erste das bräunliche Rechteck, das schemenhaft aus dem Sturm auftaucht. Ein winziges Hüttchen, halbverfallen, ohne Tür. Es ist auf keiner Karte verzeichnet, aber es bietet Windschutz. Wir trinken Tee, kauen Nüsse und Brote, wärmen die steifen und kalten Finger etwas auf und streiten darüber, wo wir eigentlich sind: sechs Leute, sechs Meinungen. Für einen kurzen Moment reißt die Wolkendecke auf und beendet die Diskussion. Genau vor uns, keinen Kilometer entfernt, ist das zugefrorene Flußbett, der einzig gangbare Weg runter ins Tal.

Eine halbe Stunde später, nach rasantem Blindflug mit diversen Stürzen, treffen wir uns zweihundert Meter tiefer in dem kleinen Birkenwäldchen wieder. Hier ist es fast windstill, der Sturm tobt oben am Berg. Noch zwei Stunden am Hang lang, und wir werden im Seter unter der heißen Dusche stehen; und abends am Kamin werden wir unser Abenteuer dezent ausschmücken.

Abgesehen von ein paar Prellungen und Schürfungen hat niemand Schaden genommen. Rein körperlich zumindest. Nur Christine hat die Faxen dicke. Sie schwört, nächsten Winter an einen zivilisierten Ort zu fahren, in den Harz zum Beispiel. Hauptsache gespurte Loipe, mit Wegweisern, Flutlicht und Notrufsäulen.

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