: Heiner Müller King
Müllerwahnsinn auf 495 Seiten, ein einziger Rausch der Brillen und Zigarren: Der Prachtband zur Legende ist da. Bitte komplettieren Sie selbst! ■ Von Petra Kohse
Daß in den letzten Jahren vor seinem Tod häufig vom „Interviewwerk“ des Dichters und Dramatikers Heiner Müller gesprochen wurde, hatte wohl zwei Gründe. Zum einen konnte man damit das Fehlen eines üppigen Spätwerks rechtfertigen, zum anderen war es eine subtile Rache an dem spröden Pathos, das Müller in seinen Texten kultivierte, während er sich mündlich schlicht und pointenreich äußerte. Wobei die freundliche Gelassenheit, mit der er noch den dümmsten Frage-und-Antwort-Spielen einen Hauch von Geist verlieh, durchaus auch provozierend wirkte. Hier war zwar einer, der all den Nachwendehysterien mit Ruhe begegnete, aber hier war eben auch einer, der sich verdächtig machte, sich vielleicht gar nicht richtig einzulassen! Statt einzelne Positionen zu belobigen oder abzustrafen, reagierte er auf die Gegenwart mit Gleichnissen aus der Geschichte oder aus der Literatur. Heiner Müller war die Vaterrolle zugedacht, und daß er sie bei ständiger Gesprächsbereitschaft gleichbleibend verweigerte, ließ die Öffentlichkeit nach seiner Anwesenheit fast süchtig werden. So wurde jedes seiner Worte zu einer Botschaft und jedes Foto von ihm zu einer Chiffre dessen, was er den Deutschen hätte sein können.
Bei Schwarzkopf & Schwarzkopf ist jetzt ein Bildband erschienen, zwischen dessen Buchdeckeln diese unerfüllte Liebe zum Dichter kiloschwer lastet. Ein Buch, das man nicht in die Hand nehmen kann, sondern in die Arme schließen muß, um es zu bewegen, und das in kein Regal paßt, sondern sich eher als Möbel andient. Das Schlüsselbild dieser Sammlung, an der gut zwei Dutzend Fotografen mitgewirkt haben, ist ein froschäugig aufgenommenes Foto von Barbara Köppe. Müllers Gesicht wölbt sich dem Betrachter doppelseitig entgegen, aber Mund und Nase sind zusammengekniffen, und die Augen hinter den spiegelnden Brillengläsern sind geschlossen. Die Fassungslosigkeit, von Müller trotz größtmöglicher Nähe womöglich nicht gesehen worden zu sein – hier findet sie ihren vollkommensten Ausdruck.
Insgesamt bietet das Buch neben etlichen Inszenierungsfotos 492 Ansichten von Heiner Müller auf 495 Seiten. „Die Fotos enthüllen nichts, es sei denn eine mit den Jahren eleganter und charmanter werdende Distanz und Unangreifbarkeit“, klagen die Herausgeber im Vorwort – eine kokette Offenheit, die die wenigsten davon abhalten wird, sich davon selbst zu überzeugen. Ob die Fotografien einen künstlerischen Anspruch haben, ob sie unterhaltsam sind oder zumindest historisch von Interesse, wird schon nach wenigen Seiten unwichtig. Eins aufs andere folgend, sich oft auch zu mehreren auf einer Seite drängend, wird jedes von ihnen zum Symptom eines fortschreitenden Müllerwahnsinns, der einen beim Durchblättern unwillkürlich anfällt. Ein Rausch der Brillen und Zigarren, der Bücherberge im Hintergrund, der Schreibmaschinen und Rauchwolken, der wechselnden Kulissen. Das mit Wolltüchern belegte Kastensofa weicht einer Ledercouch, der Rippenpulli auf dem ersten Foto wird später mit Hausschluffen Marke „Randy“ beantwortet. Öffentliches und Privates vermischen sich und bringen eine erschütternde Allgegenwart hervor: Heiner Müller in einer Gondel und auf einer Holzbank, in einem Säulengang, sich sonnend oder im Zwielicht, auf dem Bahnhof Berlin-Schöneweide, irgendwo im Schnee, im ehemaligen KZ Buchenwald oder einfach am Strand.
Und natürlich: Heiner Müller in Begleitung der gesamtdeutschen Kultur- und Politprominenz, zwischen B wie Ruth Berghaus oder Willy Brandt und W wie Martin Wuttke oder Christa Wolf. Heiner Müller mit Bartstoppeln, mit Nackenspoiler, mit Koteletten. Detailbilder, Brustbilder, Ganzkörperbilder, und irgendwann steht auf einer sonst leeren Seite: „Machen Sie sich Ihr eigenes Bild von Heiner Müller.“
Dieses Buch ist mehr als ein Watcher's Digest für die Zurückgebliebenen, es ist ein Buch der unverhohlenen Gier. Dazu paßt, daß gleich 300 Müller- Zitate blockweise eingefügt wurden. Eines davon beginnt mit dem Satz: „In Deutschland geht es immer um den König, den man nie hatte und nie fand.“
„Heiner Müller. Bilder eines Lebens“. Hrsg. von O. Schwarzkopf und H.-D. Schütt. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 495 S., 98 Mark
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