: Trimediale Seelsorge
■ Read me: Gehört, gesehen, nun gelesen - Nacht-Talker Domian hat seine extremsten Gespräche in Buchform verpackt
Jürgen Domians Leser müssen entweder ausgesprochen dämlich oder aber überdurchschnittlich experimentierfreudig sein. Um sich gegen alle Eventualitäten zu wappnen, hat er seiner Protokollsammlung „extreme leben“ folgenden Hinweis vorausgeschickt: „Autor und Verlag übernehmen keine Haftung für etwaige Schäden, die sich aus dem Gebrauch oder Mißbrauch der in diesem Buch dargestellten Praktiken ergeben.“ Untrainierte Leser sollten also erst gar nicht versuchen, die auf Seite 66 beschrieben Autofellatio nachzuturnen. Und spätestens seit Woody Allens „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten ...“ ist auch bekannt, wohin Sodomie (Seite 45f.) führen kann: zu massiver Melancholie beim Anblick von Wollwaschmitteln.
Was aber nun anfangen mit Domians Best-of-Parade seiner mittlerweile über 3.500 Late-Night- Gespräche? Zumindest ist die Lektüre der fünfzig Gesprächsprotokolle (verkürzt und mit geänderten Namen) recht kurzweilig. Zügig geblättert, nimmt sie kaum mehr als eine Stunde in Anspruch. Viel länger dauert auch Domians Call-in-Talk nicht, mit dem er seit rund zwanzig Monaten beim WDR auf Sendung ist.
„Bimedial“, wie es so schön heißt, schart er im trendigen „Eins- Live“-Radio und zeitgleich im Dritten Fernsehprogramm eine Gemeinde von Schlaflosen, Einsamen und Voyeuristen um sich. 60.000 im Durchschnitt sind werktags zwischen eins und zwei dabei, wenn der 37jährige seine „Lieben“ kumpelig durch eine neue Nacht begleitet. Domian, der Nachtfalke – gehört, gesehen und jetzt also auch gelesen.
Wie immer eine Terz zu gespreizt, preist WDR-Intendant Fritz Pleitgen im Vorwort des Buches Jürgen Domian als seine Entdeckung und registriert mit öffentlich-rechtlicher Genugtuung, daß auf seinem Sender auch nachts noch „die Menschenwürde gewahrt“ wird. Domian selbst, der einst zusammen mit Hella von Sinnen die Schulbank drückte, liefert in der Einleitung zu den „extremen leben“ zwar keinen hinreichenden Grund, warum man nun auch noch lesen soll, was man sonst hört oder sieht. Immerhin aber ist einiges über das Konzept der Telefon- Talk-Show zu erfahren: „Wir wollen unterhalten, informieren und, wenn wir können, auch helfen.“ Selbstmordkandidaten, versichert der Moderator, kommen gar nicht erst auf Sendung, sondern werden gleich an einen Psychologen weitergereicht.
„Der Seiltanz zwischen Lebenshilfe und Entertainment“ (Spiegel), der Domians nächtliche Show zum Kult hat werden lassen, scheint auch in Buchform zu funktionieren. Recht spaßige Dimensionen des Skurrilen sind es, die einem da begegnen: Der zwanghafte Heinz zum Beispiel zieht stets eine sichtbare Linie hinter sich her und hat einen Heidenstreß mit dem Entwursteln. Die Sparkassenangestellte Melanie zerstreut sich nach Schalterschluß gerne mit ambitionierter Schwanzfotografie. Und der Sperma-Cocktail von drei Schwulen sieht Vaterfreuden entgegen. Doch hat Domians nächtliche Talkwelt jenseits von Orgasmusproblemen, Fetischismen und Penislängen auch ebenso viele Schattenseiten. Krasse Fälle von Sucht, Inzest oder Mißhandlung werden dokumentiert. Domian geht sehr behutsam mit den Gesprächspartnern um, seine Fragen sind nie entlarvend. Oft genug ist er ratlos und zeigt es auch. Mit dem Betroffenheits-Gequatsche von Fliege, Christen und Co. hat das nichts gemein – und doch bleibt dieses schale Gefühl, daß etwas falsch läuft.
An einer Stelle im Buch zitiert Domian aus dem Brief eines mißbrauchten, elfjährigen Jungen, der die Sendung heimlich sieht, wenn die Mutter schon schläft und der Vater sich noch vollaufen läßt: „Wenn Du mein Papa wärst, dann wäre alles gut ... Du würdest mich doch bestimmt nicht schlagen?“ Der Mensch im Fernsehen als Ersatzfamilie, letzter Halt. Jürgen Domian wird in seinem Buch nicht müde zu betonen, welche Verantwortung er bei einer Sendung wie der seinen trägt. Und man nimmt es ihm ab, daß er ihr gerecht werden will. Für den mißbrauchten Jungen allerdings bleibt auch Domian letztlich nur eine mediale Projektion, denn er wird nicht da sein, wenn der Papi das nächste Mal besoffen auf das Kind eindrischt. Jutta Czeguhn
Jürgen Domian: „extreme leben. protokolle und kommentare“. vgs- Verlagsgesellschaft Köln, 1996, 19,80 DM
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