: Weniger als 20 Kilometer von einem der dramatischsten Krisenherde der Welt entfernt, entlang der zairischen Grenze in Ruanda, herrscht kein Krieg. Was drüben, auf zairischer Seite des Kivusees, geschieht, weiß im Grenzgebiet Ruandas kaum jemand. Und diejenigen, die es wissen, reden nicht darüber. Aus Kigali Bettina Gaus
„Wir sind Ruander, keine Flüchtlinge“
Internationale Organisationen benutzen die holprige, ungeteerte Straße nicht, die sich kurvenreich um die Hügel oberhalb des Kivusees windet. Dabei stellt sie die kürzeste Verbindung zwischen Ginsenyi und Cyangugu dar, den beiden ruandischen Städten an der Grenze zu Zaire. Ausländer nehmen lieber den weiten Umweg über die Hauptstadt Kigali in Kauf, denn die Piste gilt als gefährlich. Mehrfach sind hier in diesem Jahr Minen explodiert. Mehr als zehn Passagiere starben, als vor einigen Monaten ein Sammeltaxi in die Luft flog.
„Das ist doch ewig her“, sagt eine der spanischen Klosterschwestern, die etwa 20 Kilometer südlich von Ginsenyi im kleinen Ort Kivumu ein Krankenhaus leiten. „Derzeit ist hier alles völlig ruhig.“ Mehr mag sie nicht erzählen. Nur beim Hinausgehen flüstert sie: „Man sollte hier vorsichtig sein, wenn man mit jemandem redet. Hier stehen die Leute entweder auf der einen oder auf der anderen Seite.“
Die eine und die andere Seite – die eine ist die Regierung in Ruandas Hauptstadt Kigali und die Armee, die dominiert wird von der vor zwei Jahren im Bürgerkrieg siegreichen Rebellenbewegung. Ethnisch beherrscht wird sie von der Minderheit der Tutsi. Diese Armee war es, die 1994 den Völkermord an der Tutsi-Zivilbevölkerung ein Ende bereitet hatte, der vom alten Regime organisiert worden war. Und das stützte sich auf die Bevölkerungsmehrheit der Hutu. Auf der anderen Seite in dem Konflikt stehen diejenigen, die die Hoffnung auf eine Rückeroberung der Macht in Ruanda noch nicht aufgegeben haben.
Glatt und ruhig liegt der Kivusee inmitten majestätischer Hügel. Einige von ihnen sind dicht bewaldet, andere werden von Bauern bestellt. Drüben auf der anderen Seite des Sees liegt Zaire. Was dort gegenwärtig geschieht, weiß kaum jemand – und diejenigen, die es wissen, wollen nicht darüber reden.
Fest steht nur: Die zairischen Grenzstädte Bukavu und Goma, die von den ruandischen Orten Cyangugu und Ginsenyi jeweils nur durch einen Schlagbaum getrennt sind, wurden von zairischen Rebellen erobert. Sie erhalten militärische Hilfe von Ruanda. Das ländliche Gebiet zwischen den Städten ist für Außenstehende unerreichbar. Dort sollen Streitkräfte des gestürzten ruandischen Regimes Militärbasen unterhalten.
Von hier aus sind auch Berichten internationaler Beobachter zufolge in den letzten Jahren immer wieder Sabotageakte, Morde und Überfälle auf das ruandische Gebiet entlang des Sees verübt worden. Milizen wurden aufgespürt und getötet. Sie trugen Minen bei sich. Mehrfach sind Tutsi, die die Massaker von 1994 überlebt haben, gezielt ermordet worden. Auf der Insel Ijwi, die zu Zaire gehört, befand sich ein ruandisches Flüchtlingslager. Dort sollen besonders viele Waffen versteckt gewesen sein. Regelmäßig wurde die der Grenze vorgelagerte Halbinsel in der Provinz Cyangugu von der Insel aus mit schwerer Artillerie beschossen.
Heute sind derartige kriegerische Ereignisse nur schwer vorstellbar. Weniger als 20 Kilometer Luftlinie von einem der dramatischsten Krisenherde der Welt entfernt, ist hier nur Afrika zu sehen, wie es am ärmsten ist. Zerlumpte Kinder starren am Straßenrand fasziniert auf das vorbeifahrende Auto. Fahrzeuge sind selten in der Gegend. Nicht einmal Sammeltaxis verkehren regelmäßig.
Auch für Kleinlaster lohnt sich der Weg nicht allzuoft. Mit viel mehr als Reis, Mehl, ein paar Schachteln Streichhölzer, einigen Rollen Toilettenpapier und ein wenig Seife lassen sich die Läden der kleinen Geschäftszentren entlang der Straße nicht beliefern. In der ländlichen Idylle erinnern nur die Hochspannungsmasten daran, daß es anderswo eine Welt gibt, in der Strom zum Alltag gehört. Die rohen Ziegelhäuser und Hütten der Kleinbauern werden von den Leitungen nicht erreicht.
Es scheint hier tiefster Friede zu herrschen. Kurz hinter Tibumu liegt eine Ansiedlung von kleinen Hütten, die mit den blauen Plastikplanen der Vereinten Nationen auf den Dächern aussieht wie ein Flüchtlingslager. „Nein, wir sind keine Flüchtlinge“, erklärt Samuel Ntacyo. „Wir sind Ruander.“
Die 40 Tutsi-Familien, die hier wohnen, sind lebende Zeugnisse der wechselvollen blutigen Geschichte der Region. Sie flüchteten Anfang der sechziger Jahre nach Zaire, als die Hutu-Mehrheit das feudalistische Herrschervolk der Tutsi von der Macht verjagte. Im letzten Jahr jedoch begann dort die Vertreibung und Verfolgung der vergleichsweise wohlhabenden ansässigen Tutsi, von denen die meisten schon seit 200 Jahren auf dem Territorium des heutigen Zaire leben. Die ruandischen Tutsi kehrten in die alte Heimat zurück.
Warum leben sie dann noch immer wie in einem Lager? „Wir bauen uns Häuser, aber das dauert seine Zeit“, sagt Samuel Ntacyo. „Wir haben uns auch schon Land genommen, das wir bestellen.“
Dort wo die Heimkehrer jetzt Ackerbau betreiben, war früher dichter Wald. Das Umweltministerium sei über die Landnahme nicht glücklich gewesen, erzählt Ntacyo. „Aber da die Regierung nicht wußte, wohin sie sonst mit uns sollte, haben sie uns halt die Felder gelassen.“ Jetzt wachsen zwischen Baumstümpfen Mais, Bohnen und Kartoffeln.
Tutsi-Heimkehrer, die jahrelang in Zaire, Burundi oder Uganda gelebt haben, werden von Milizen des alten ruandischen Regimes als Gegner betrachtet. Aber die Familien hier auf dem Hügel scheinen keine Angst vor Überfällen zu haben. Keine Soldaten sind zu ihrem Schutz abgestellt. Allzu aktiv können Regierungsgegner hier derzeit nicht sein.
Nach wie vor bestreitet die ruandische Regierung, daß sie den Rebellen in Zaire Hilfe leistet. Auch diese betonen, ihre Organisation bestünde aus innerzairischen demokratischen Widerstandskräften. Aber die Hinweise auf eine unmittelbare Beteiligung ruandischer Militärs sind zu zahlreich, als daß diesen Dementis Glauben geschenkt werden könnte.
Lastwagen und Kleintransporter mit Soldaten und schweren Waffen sind auf den Hauptstraßen Ruandas zur Grenze hin unterwegs. Die geschickt gelenkte Informationspolitik der Rebellen in Bukavu und Goma erinnert daran, wie die ruandische Rebellenbewegung während des Bürgerkriegs mit Journalisten umgegangen ist. Die Gummistiefel der siegreichen Kämpfer gleichen denen der ruandischen Armee bis ins Detail.
In den letzten Tagen haben es nur wenige Flüchtlinge geschafft, von Zaire nach Ruanda zu gelangen. Eine von ihnen ist Françoise Mukantwali. Eine Woche lang habe sie sich versteckt, nachdem ihr Flüchtlingslager in Zaire angegriffen worden sei, erzählt sie in einem Transitcamp in Cyangugu. „Dann haben wir Soldaten getroffen, die uns beim Grenzübergang geholfen haben. Sie haben uns auch zu Essen gegeben.“ Woher die Soldaten stammten, wisse sie nicht. „Sie sprachen Kinyaruanda.“ Das ist die Sprache Ruandas.
Seit langem fordert die Regierung in Kigali die vielen hunderttausend ruandischen Flüchtlinge zur Heimkehr auf. Aus gutem Grund: Bislang haben Streitkräfte des gestürzten Regimes und Drahtzieher des Völkermordes von 1994 unschuldige Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder, als Schutzschild benutzt.
Eine Million Dollar pro Tag hatten internationale Organisationen für die Versorgung der Lager in Zaire ausgegeben, bevor die Kämpfer von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Die ruandische Regierung hatte seit langem den Vorwurf erhoben, daß die Weltöffentlichkeit mit den Hilfslieferungen die Vorbereitung eines Angriffskrieges von Zaire aus nach Ruanda unterstütze.
Die Eroberung von Goma und Bukavu bringt der politischen Führung in Kigali viele Vorteile. Die Streitkräfte des gestürzten ruandischen Regimes haben derzeit anderes zu tun, als sich auf das Territorium der alten Heimat vorzuwagen. Und die Flüchtlinge, die bisher heimgekehrt sind, sind fast ausschließlich Frauen und Kinder. Für die nächsten Tage und Wochen erwarten Hilfsorganisationen einen sprunghaften Anstieg ihrer bislang noch geringen Zahl.
Es herrscht Ruhe im Land. Auf der gesamten Strecke im ruandischen Grenzgebiet sind so gut wie keine Militärs zu sehen: Nicht in der Provinz Ginsenyi, wo die neue Regierung unbeliebt ist, nicht in der Provinz Kibuyi, wo besonders viele Tutsi ermordet worden waren, nicht in der Provinz Cyangugu, wo die meisten Sabotageakte gemeldet worden waren. Lediglich an den Provinzgrenzen und am Eingang größerer Orte gibt es Militärkontrollen.
Die Soldaten, die zwischen Kibuyi und Cyangugu eine über die Straße gespannte Schnur bewachen, langweilen sich fürchterlich. Die Überprüfung des Fahrzeugs, in dem die Berichterstatterin sitzt, dürfte die einzige Abwechslung an diesem Tag sein.
Viel Honig läßt sich für sie daraus nicht saugen. Eine Unterhaltung kommt nicht zustande, so gerne die Soldaten sie auch führen möchten. Aber sie sprechen weder englisch noch französisch. Auch das Entziffern des Passes bereitet Mühe. Die Soldaten gehören offenbar zu denen, die erst in den letzten Jahren rekrutiert worden sind. Die einzigen Rebellen, die nach wie vor das Rückgrat der ruandischen Armee bilden, waren dagegen vorzüglich geschult und ungewöhnlich gebildet.
Unabhängigen Berichten zufolge haben in den letzten Jahren beide Seiten, die ruandische Armee und die Streitkräfte des gestürzten Regimes, dramatisch aufgerüstet und Zehntausende neuer Rekruten eingezogen. Mit den Operationen in Zaire stabilisiert die Regierung in Kigali das eigene Territorium – noch. Aber mit dem Überschreiten der Grenze ist die Büchse der Pandora geöffnet worden. Ungeachtet aller Bürgerkriege in Afrika galten die Grenzen auf dem Kontinent seit Jahrzehnten als unverletzlich und blieben auch tatsächlich weitgehend unverletzt. Bleibt es dabei nicht, dann sind die Folgen nicht absehbar.
Im Fußballstadion von Kibuje liegen riesige Ballen zusammengerollter Zelte. Die Regierung wollte hier ein Übergangslager für Flüchtlinge aufbauen. Nicht für ruandische Heimkehrer, sondern für Neuankömmlinge aus Zaire. Internationale Organisationen haben sich der Wahl des Ortes aus Gründen des guten Geschmacks widersetzt. Im Stadion waren 1994 mehr als 10.000 wehrlose Tutsi – Männer, Frauen und Kinder – abgeschlachtet worden. Wird der Ansturm allzu groß, ist fraglich, wie lange sich irgend jemand noch Taktgefühl wird leisten können.
Die meisten zairischen Flüchtlinge, die ins Nachbarland Ruanda kommen, sind Tutsi. Die Regierung in Kigali würde sie dem Vernehmen nach gerne als Staatsbürger aufnehmen, zumal es in ländlichen Gebieten infolge der Massenflucht noch immer an Arbeitskräften fehlt.
Aber so schnell will niemand die Heimat aufgeben: „Wir sind keine Ruander“, meint Brasio Sebuhinja. Er ist mit seiner Familie schon vor sieben Monaten aus Zaire geflüchtet. „Wir wollen auch keine Ruander werden. Wir sind einfach Zairer, die zu Hause schlecht behandelt worden sind. Wir wollen zurück.“ Wann glaubt er, daß das möglich sein wird? Brasio Sebuhinja zuckt die Schultern und schweigt.
Siehe auch Reportage Seite 11
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