■ Nachschlag: Schneller wohnen: Richard Sennetts Vortrag zum urbanen Dschungel
Der Student, der mit wildem Blick und einem Mischpult unterm Arm in den Vortragssaal marschierte, hatte wohl mehr erwartet. Slam-Soziologie vielleicht. Nach einer Stunde Richard Sennett war er mit Sicherheit enttäuscht: Seriöse Empirie, fundierte geschichtliche Bezüge und professoral gezähmtes Querdenken – das war die Ausbeute von Sennetts Vortrag „The Culture of the New Capitalism“ am Montag abend in der Akademie der Künste.
Der Urbanist eröffnete die Vortragsreihe „Die Wandlung des Städtischen“, veranstaltet von verschiedenen Fachbereichen der Berliner Universitäten. Das Thema ist dehnbar, und den meisten Vortragenden dürfte es gelingen, die gerade auf dem Schreibtisch liegenden Forschungsarbeiten in Verbindung mit Städte-Problematik zu bringen. Auch Sennett mußte nicht lange in seinen Unterlagen wühlen. Der „Turbokapitalismus“, den er vor den rund 400 Besuchern ausbreitete, geisterte längst als Schlagwort durch die Medien.
Alles geht schneller: die Kapitalakkumulation, die Globalisierung, das Wirtschaftswachstum. Der Mensch ist verunsichert, stellen Soziologen und Leitartikler gemeinsam fest, insbesondere der Mensch der Mittelklasse. Denn an den Folgen des flexiblen, aber auch ziemlich brüchigen Wirtschaftsprozesses leiden nicht nur die Arbeiter. Das Lumpenproletariat trägt heute Anzug und Krawatte, und Marx müßte sich seine Schützlinge in den Rängen der Banker und Manager suchen.
Sennett schilderte das eingehend untersuchte Problem noch einmal und nicht besonders originell. Allerdings bot er eine halbwegs provokante These, wie den postmodernen kapitalistischen Stürmen zu trotzen sei. Die Menschenmassen, die nutzlos über den Rand der Jobholder-Society gefallen sind, wollen keine kuscheligen Wohnanlagen, argumentierte der New Yorker Soziologe in Anschluß an die Überlegungen in „Fleisch und Stein“ (1995), seinem letzten auf Deutsch erschienenen Werk. In einer Gesellschaft, in der Arbeit das höchste Gut, gleichzeitig aber nichts mehr wert ist, müssen die Individuen sich neue, unpersönliche Räume erobern: Der Versuch, über Arbeit eine Lebensgeschichte zu etablieren, wird in Zukunft immer häufiger mißlingen – zehn oder elf Arbeitsplatzwechsel während einer Berufslaufbahn sind keine Seltenheit mehr. Wer sich in die falsche klaustrophobische Sicherheit allzu persönlicher Wohn- und Lebensbereiche zurückzieht, findet dort ein leeres Selbst. Statt dessen also auf zu neuen Abenteuerspielplätzen – mit Richard Sennett in den urbanen Dschungel. Kolja Mensing
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