: Neues aus dem Land der Lebensschützer
In Bayern werfen die neuen Schikanen für Frauen ihre Schatten voraus: Zwei Bayerinnen und ein Abtreibungsarzt über ihre Erfahrungen mit ganz normalen Gynäkologen und einem Spezialgesetz ■ Von Daniela Weingärtner
Das Klinikum Nord in Nürnberg ist kein Ort, zu dem man freiwillig ginge. Mit seiner abweisenden Fassade aus den 30er Jahren, seinen Durchfahrtssperren und dunklen Pförtnerkabüffchen erinnert es an eine strenge Zuchtanstalt. Mehr als 2.000mal im Jahr beugen sich Frauen zu dem kleinen ovalen Fensterchen im Glas der Pförtnerloge herunter und fragen den Fremden, der dort sitzt, nach Doktor Freudemann. Manche kommen allein, andere mit ihrer Freundin, ihrem Freund oder ihrem Mann. Alle aber kommen mit diesem komischen Gefühl in der Magengegend, das gemischt ist aus seelischer Unruhe und Angst vor dem körperlichen Schmerz, der sie erwartet.
Diese Frauen haben ein Formular in der Tasche, das sich „Beratungsbescheinigung“ nennt und von einer in Bayern zugelassenen Beratungsstelle ausgefüllt worden ist. Weil Bayern zum 1. Oktober ein Sondergesetz eingeführt hat, haben diese Frauen für die Bescheinigung ihre Gründe für den Schwangerschaftsabbruch offenlegen müssen.
Bei pro Familia in Nürnberg haben die Beraterinnen mit dieser Klausel aus dem bayerischen Gesetz keine schlechten Erfahrungen gemacht. Die meisten Frauen haben sich den Schritt gut überlegt und nennen ihre Gründe ohnehin im Beratungsgespräch. Im anonymen Protokoll, das die Mitarbeiterin hinterher ausfüllen muß, gibt es neben 18 Rubriken mit sozialen Gründen auch die Position „sonstiges“. Auch in Bayern kann keine Frau gezwungen werden, ihre wahren Gründe zu offenbaren.
Als belastend empfindet Brigitte Frey von pro Familia aber andere Formalitäten, zu denen das Gesetz sie verpflichtet. Manche Frauen fürchten um ihre Anonymität, wenn sie den Personalausweis vorlegen müssen. Und wenn ihnen die Kopie der Bescheinigung mit dem Hinweis ausgehändigt wird, daß sie als Nachweis in einem Strafprozeß nützlich sein könnte, bekommen viele erst recht einen Riesenschreck. Die Frauen, die sich im Klinikum Nord zum Termin bei Doktor Freudemann einfinden, tragen oft noch einen zweiten wichtigen Zettel mit sich herum. Wenn sie weniger als 1.700 Mark monatlich zur Verfügung haben, können sie von ihrer Krankenkasse eine Bestätigung erhalten, daß sie die Kosten für den Eingriff übernehmen wird.
Seit dem 1. Oktober sind aber viele Kassen dazu übergegangen, diese Bestätigung nur noch unter Vorbehalt zu erteilen. Denn das bayerische Sozialministerium hat angedroht, den Kassen ihre Auslagen nur noch zu erstatten, wenn der behandelnde Arzt den neuen bayerischen Vorschriften entspricht. Gerade das tut Andreas Freudemann nicht. Er ist auf Schwangerschaftsabbrüche spezialisiert. Nach dem neuen Gesetz dürfen aber nur noch 25 Prozent des Einkommens aus Abtreibungen stammen.
Für den Arzt bedeutet das, daß er sich mit den Kassen um sein Geld streiten muß. Die Bayerische Techniker-Krankenkasse hat aber in mindestens einem Fall auch die betroffene Patientin in die Auseinandersetzung einbezogen. Ihr flatterte eine Mitteilung ins Haus, daß der Eingriff trotz vorliegender Kostenübernahmeerklärung nicht von der Kasse erstattet werde. Wieder mal Anlaß für einen Riesenschreck, wie ihn Frauen derzeit in Bayern kriegen können.
Wer auf dem Gelände des Klinikums Nord den richtigen Aufgang gefunden und die Schwelle zu Freudemanns Praxis überschritten hat, läßt die bayerischen Verhältnisse hinter sich. Die Frauen tauchen ein in eine andere Welt, die außerhalb Bayerns zu liegen scheint. Das Schild unter der verchromten Klinikuhr zeigt, daß dieser Eindruck gewollt ist: „In Bayern gehen die Uhren anders, heißt es. Damit dies zumindest in dieser Praxis nicht mehr so ist, hat diese alte Klinikuhr eine neues Quarzlaufwerk bekommen. Sie zeigt jetzt bundesrepublikanische Zeit.“
Andreas Freudemann ist sichtlich stolz darauf, den Anstaltsmief der 30er Jahre aus diesen Räumen vertrieben zu haben. Von den sanften Blautönen an den Wänden bis zur Farbe des Rollos hat er alles selbst ausgesucht. Der Mann ist ein schmales Hemd. Die Anspannung der letzten Monate, seit er durch die bayerischen Gesetzespläne um seine Existenz fürchten muß, ist seinem Gesicht anzumerken.
Bis Ende 1992 war Freudemann Leiter der pro Familia in Bremen. Dann bot ihm Nürnbergs Gesundheitsbürgermeister, ein Grüner, im Klinikum die Räume an. Als 1995 die Stadtratsmehrheit wechselte, wurde sein Mietvertrag sofort überprüft. Aber er ist wasserdicht und für 20 Jahre unterschrieben. Eine Million hat Freudemann in den Umbau der Praxisräume gesteckt. Wenn das Bundesverfassungsgericht den bayerischen Alleingang nicht stoppt, muß er dichtmachen.
„Horror!“ sagt Nilgün Karpat zwei Tage nach dem Eingriff (Name von d. Red. geändert) beim Gedanken an diese Möglichkeit. Und erzählt, was es für sie bedeutet hat, einen Arzt wie Freudemann zu finden. Denn vergangenes Jahr war Nilgün Karpat schon einmal schwanger. Sie hatte verhütet, aber die Spirale war verrutscht. Der Frauenarzt, den man ihr empfahl, entsprach ganz und gar den bayerischen Vorschriften. Er war niedergelassener Gynäkologe und nahm nur gelegentlich Abbrüche vor. Das läßt sich auch anders ausdrücken: Er hatte wenig Routine. Als die Schmerzen nicht aufhörten, mußte Karpat noch mal dorthin. Sie schrie bei der Behandlung, es war „wie eine Vergewaltigung“. Und der Arzt sagte den Satz, den schon viele Frauen in dieser Situation zu hören bekamen: „Das mach' ich, damit Sie sich's fürs nächste Mal merken.“
Ein Jahr später war Nilgün Karpat wieder schwanger und außer sich vor Panik. Sie dachte daran, was ihr beim letzten Mal passiert war. Aber sie erzieht ihre zweijährige Tochter allein, möchte eine Lehre anfangen und fühlt sich einem zweiten Kind nicht gewachsen. Deshalb ging sie zu Freudemann. Und der schaffte es, ihr die Angst vor dem Eingriff zu nehmen.
In Bayern ist der Abtreibungsarzt für viele Frauen noch der Gottseibeiuns persönlich. Bis sie selber seine Hilfe brauchen und zum Vorgespräch in Freudemanns Klinik kommen. Der Arzt hat inzwischen ein Gespür dafür entwickelt, wie es um die Frauen steht, die ihm im kleinen Beratungszimmer gegenübersitzen. Wenn er nur den leistesten Zweifel bei ihnen spürt, läßt er ihnen Zeit. Oft gehen sie nach Hause und holen sich einen neuen Termin, wenn sie ihrer Entscheidung sicher sind. Zehn bis zwanzig Abbrüche nimmt Freudemann jeden Tag vor. Aber jeden Tag ist mindestens eine Frau dabei, die er zunächst wieder nach Hause schickt. Sollten die Spezialpraxen in Bayern zum 1. Juli nächsten Jahres schließen müssen, wäre es mit dieser Bedenkzeit vorbei. Denn Frauen, die für eine Abtreibung weite Wege in andere Bundesländer auf sich genommen haben, werden sich schwer damit tun, möglichen Zweifeln Raum zu lassen.
Auch Nilgün Karpat saß bei Doktor Freudemann im Beratungszimmer. Sie war sich ihrer Entscheidung sicher. Der Fötus war in der fünften Woche, und sie fühlte sich erleichtert, als sie ihn hinterher sehen durfte: „Das war nur die befruchtete Eizelle, wie ein paar Spuckebläschen auf der Hand.“ Später lag sie in dem Ruheraum auf einem der Liegestühle, die mit ihren bunten Kissen wirken wie eine Reminiszenz an Rimini. Auch Petra Brettschneider (Name von d. Red. geändert) hat sich dort nach der Operation ausgeruht. Sie ist 43, 13 Jahre älter als Nilgün Karpat, und lebt unter ganz anderen Umständen. Aber ihr Entschluß zur Abtreibung war genauso unumstößlich.
Weil sie Doktor Freudemann unterstützen will, ist sie bereit, über ihre Beweggründe zu sprechen. Ihre beiden Kinder sind zehn und zwölf Jahre alt, und sie glaubte nicht, daß sie in ihrem Alter noch schwanger werden könnte. Als es doch geschah, war sie sich mit ihrem Mann schnell einig, daß sie ein drittes Kind in ihrem Alter nervlich beide nicht mehr verkraften würden.
Petra Brettschneider sieht aus, wie man sich eine solide fränkische Hausfrau und berufstätige Mutter vorstellt: Gepflegte aufgesteckte Frisur, dezentes Make-up, unauffällige Bürogarderobe. Wie sie so dasitzt, strahlt sie freundliche Gelassenheit und große Sicherheit aus. Petra Brettschneider glaubt an den Herrgott. Und wenn sie auf ihre Kirche zu sprechen kommt, gerät sie in Fahrt: „Mit meinem Herrgott bin ich mir einig, daß es besser ist, sich um die Lebenden zu kümmern. Deswegen trau' ich mich nächsten Sonntag ganz genauso in die Kirche. Weil ich glaub‘, daß der da oben es ganz anders sieht als die hier unten.“
Weil Petra Brettschneider eine praktische Person ist, liebt sie griffige Vergleiche. Was die bayerischen Pläne angeht, Spezialpraxen in Zukunft zu verbieten, hat sie gleich einen parat: „Das ist wirklich pervers. Was Freudemann gut kann, sollen jetzt irgendwelche Stümper machen. Wenn Sie jede Woche den gleichen Kuchen backen, können Sie das auch besser als ein neues Rezept.“
Der geschätzte Spezialist sitzt derweil in seinen urlaubsblauen Rimini-Räumen und arbeitet. Wenn er nicht operiert, feilt er an den Schriftsätzen seiner Anwälte. Natürlich könnte er ein paar Meter hinter der bayerischen Landesgrenze eine neue Praxis aufmachen, aber Freudemann ist ein Kämpfer: „In diesen Räumen steckt mein Herzblut drin. Ich laß' mich nicht von irgendeinem Kardinal vertreiben.“ Sollte seine Verfassungsklage Erfolg haben, hat er für die Zeit danach schon eine Liste von neuen Projekten. Die häßliche Klinikterrasse neben seinen Praxisräumen will er in einen Wintergarten verwandeln. Denn eine ruhige, freundliche Atmosphäre ist für die Frauen, die seine Hilfe brauchen, die beste Medizin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen