: Unsichere Zukunft für die Psychiatrie
Massiver Bettenabbau und unklare Finanzierung: Niemand weiß, wie es mit der Enthospitalisierung von psychisch Kranken weitergehen soll. Freien Trägern geht es an die Substanz ■ Von Niko Jahn
Das Land Berlin muß sparen – auch über den Abbau psychiatrischer Betten in Heimen, Krankenhäusern und Hospitälern. Deshalb wurde der Psychiatrieentwicklungsplan (PEP), der seit über zehn Jahren in den Schubladen lag, zum Leben erweckt. Über die Hälfte der 3.500 Psychiatrie-Betten sollen gestrichen werden, heißt es im PEP, eine Einsparung von 60 bis 80 Millionen Mark für Senat und Bezirke, schätzt der Paritätische Wohlfahrtsverband. Vor wenigen Wochen passierte der PEP die politischen Instanzen. Nur der „Rat der Bürgermeister“ hat sich noch nicht entschieden. Und das mit gutem Grund: Die Bezirksbürgermeister fürchten, auf den Kosten (Beihilfen, Sozialhilfe) für die psychisch Kranken, die in ihren Bezirken leben, sitzenzubleiben, und fordern einen Finanzausgleich.
Trotzdem geht es mit dem Bettenabbau sehr schnell. Gespart wird bereits mit Macht, wie das Beispiel der Intensiv- und Kriseninterventionsstation am Uni-Klinikum Benjamin Franklin in Steglitz zeigt: Die 18 Betten wurden gegen massiven Protest der Ärzte und ihrer Mitarbeiter in die Psychiatrische Klinik an der Eschenallee in Charlottenburg verlegt. Doch auch in dieser Klinik wird bereits rigoros abgebaut. Von den 200 Betten sind noch 150 geblieben, Ziel ist die Reduzierung auf 100 Betten. Bis 1998 sollen 500 Psychiatrie-Betten an den drei Universitätskliniken eingespart werden.
1995 gab es noch 1,3 Psychiatrie- Betten auf 1.000 Einwohner (3.500 Betten), in den nächsten Jahren soll die Zahl zunächst um 1.500 Betten und längerfristig um weitere 300 Betten auf 0,6 Betten pro 1.000 Einwohner gesenkt werden.
Der Bettenabbau funktioniert wie am Schnürchen, doch beim Ausbau der Versorgung durch freie Träger hapert es. Es entsteht die absurde Situation, daß die Bezirke kein Geld haben, der Senat aber auf 60 Millionen Mark sitzt, die die Berliner Krankenkassen schon im Jahr 1994 für die Enthospitalisierung zur Verfügung gestellt haben.
Wohin also mit den Kranken, wenn der Bettenabbau zwar forciert, der Ausbau alternativer Versorgung aber nur schleppend realisiert wird? An den freien Trägern liegt es nicht. Sie stehen bereit, haben eine Vielzahl neuer Projekte durchgeplant und bei den Bezirken vorgelegt. Erst wenn die Bezirke ein neues Projekt empfehlen, bewilligt der Senat die notwendigen Mittel aus dem Enthospitalisierungstopf der Krankenkassen. Das Geld ist abrufbar in vier Raten zu je 15 Millionen Mark bis 1998. Bisher wurden vom Senat nur 3 Millionen Mark der Krankenkassenmittel für die Realisierung neuer Projekte der psychosozialen Versorgung ausgegeben.
„Das liegt an den Bezirken, die viel zu lange brauchen, um die Anträge der freien Träger zu bearbeiten“, klagt der Psychiatriebeauftragte des Senats, Heinrich Beuscher. „Wenn bei uns nur Anträge für 3 Millionen Mark eingegangen sind, können wir das nicht ändern.“
Elfie Witten vom Paritätischen Wohlfahrtsverband wundert sich nicht über die zögernde Haltung der Bezirksverwaltungen. „Die Bezirke scheuen davor zurück, Psychiatriekranke aufzunehmen, weil sie die immensen Folgekosten fürchten. Wir fordern schon lange einen Finanzausgleich zwischen den Bezirken mit Einrichtungen der psychosozialen Versorgung und den anderen. Doch es geschieht nichts.“ Heute gilt nämlich bei der Finanzierung der Heime das „Wohnort-Prinzip“. Der Bezirk, in dem die Kranken wohnen, muß für die Kosten aufkommen. Wo es viele Einrichtungen freier Träger gibt, muß der Bezirk tiefer in die Tasche greifen.
Auch Clemens Kolling, Psychiatriekoordinator in Wedding, kann die Politik der Bezirke verstehen: „Wenn der PEP funktionieren soll, müssen die Bezirke bei den laufenden Kosten entlastet werden. Wenn beispielsweise ein Träger im Wedding Menschen aus einem psychiatrischen Krankenhaus in eine Wohngemeinschaft aufnimmt, muß die Bezirksverwaltung bezahlen. Das muß schnell geändert werden. Bezirke mit vielen Projekten dürfen nicht benachteiligt werden.“
Wann über den Finanzausgleich entschieden wird, ist unklar. Trotzdem muß für die Enthospitalisierten aus den bereits abgebauten Psychiatrie-Betten etwas getan werden. Das wissen natürlich auch die Verantwortlichen in den Bezirken, und so hat es diese oder jene Empfehlung für ein neues Projekt gegeben. Der Senatsbeauftragte Heinrich Beuscher verweist darauf, daß zur Zeit immerhin Anträge aus 1995 und 1996 in Höhe von rund 10 Millionen Mark bearbeitet werden. Wann die Mittel fließen, weiß auch er allerdings nicht zu sagen.
Das alles dauert den freien Trägern viel zu lange. Sie wollen loslegen und fühlen sich dabei behindert. Bremser sind nicht nur die Bezirke. Auch der Senat verzögert die Entwicklung, und das hat offensichtlich einen guten Grund: die 60 Krankenkassen-Millionen sollen den ohnehin gebeutelten Säckel des Senats so lange wie möglich entlasten, bei der Realisierung des PEP möglichst ganz und gar.
„Wir gehen davon aus, daß wir den gesamten PEP, das heißt Bettenabbau und Ausbau der Versorgung durch freie Träger, aus den Krankenkassenmitteln finanzieren können“, sagt Beuscher. „Wir müssen mit den Krankenkassen verhandeln, um die Frist zu verlängern. Bis Ende 1998 kann der PEP nicht verwirklicht werden.“ Zur Verwirklichung des PEP gehört auch, daß Projekte wie Beratungsstellen, Krisenambulanzen, die bisher über Zuwendungen finanziert werden, endlich so etwas wie „Haushaltssicherheit“ bekommen, daß aus Zuwendungen, auf die kein Träger einen rechtlichen Anspruch hat, eine gesetzlich einklagbare Festfinanzierung wird. Das soll bereits 1998 geschehen. Für einige freie Träger wird es dann jedoch vielleicht schon zu spät sein.
Bei den zuwendungsfinanzierten Projekten wird längst gespart. Einige fürchten bereits die Pleite, denn die Zuwendungen, Pauschalen für Betriebs- und Personalkosten, wurden in einigen Bezirken rigoros gekürzt.
Der Diplompsychologe Gerd Pauli, Vorsitzender der Kontakt- und Begegnungsstätte (KBS e.V.) im Bezirk Wedding, muß noch in diesem Jahr 35 Prozent Eigenmittel aufbringen. „Wir sollen 300.000 Mark selbst aufbringen. Das ist absolut illusorisch“, sagt er. „Für KBS bedeutet es, daß wir unser Angebot einschränken müssen. Wir können uns nicht mehr so stark um psychisch Kranke kümmern, wir müssen womöglich Personal entlassen. Da 1997 noch größere Kürzungen absehbar sind, ist zu befürchten, daß die gesamte ambulante Versorgungsstruktur wegbricht. Es ist eine Katastrophe.“
Die Sparwut geht so weit, daß Pleiten der kleinen Trägervereine riskiert werden. Skeptiker vermuten, die „Bereinigung“ im psychosozialen Bereich sei geplant, weil die Verwaltung glaube, die Klientel der kleineren Träger könne problemlos von großen geschluckt werden. Damit werde die Zusammenarbeit mit großen Trägern möglicherweise einfacher und preiswerter als die mit der bunten Vielfalt vieler kleiner Trägervereine.
Die Kleinen sind ein Überbleibsel der 80er Jahre. Damals boomte die Enthospitalisierung besonders stark in Berlin. Nach der Wende wurde dann noch mal rangeklotzt. Die psychosoziale Versorgung im Ostteil der Stadt wurde aufgebaut. Seither herrscht eher Stagnation. Besonders schwierig wurde die Situation, nachdem mit der Verwaltungsreform 1993 die Zuständigkeit vom Senat auf die Bezirke überging. Seither sind 23 Verwaltungsstellen der Bezirke, statt einer Senatsverwaltung, zuständig für die Trägervereine und ihre Anliegen. Das schafft bis heute Verunsicherung bei den freien Trägern, aber auch bei den Psychiatriebeauftragten der Bezirke. „Sparhaushalte“ verschärfen die Situation. Überall Planungsunsicherheit, die Bezirke wissen heute noch nicht, wieviel Geld sie im nächsten Jahr an freie Träger verteilen können, ob sie irgendwann Ausgleichszahlungen aus anderen Bezirken bekommen, wieviel Geld der Senat aus den Krankenkassenmitteln freigibt. Infolgedessen können auch die freien Träger nur noch schwer planen.
Vereine mit festen Einrichtungen wie Betreutes Alterswohnen haben es leichter, ihren Haushalt aufzustellen. Sie werden über Tagessätze (pro Person, Pflegeaufwand) finanziert, auf die es einen Rechtsanspruch gibt. Diese Vereine müssen jetzt allerdings damit fertig werden, daß die Tagessätze dieses Jahr um zwei Prozent gekürzt wurden.
Niemand weiß, wie es in der Zukunft weitergeht. Experten fürchten, daß zwar Krankenhausbetten reduziert werden könnten, die Enthospitalisierung in den Einrichtungen freier Träger aber nicht sichergestellt sei.
Eine trickreiche Variante, die psychisch Kranken loszuwerden und die Zahlen der Enthospitalisierung zu frisieren, hat die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGSP) kürzlich in einer Studie publik gemacht. In einigen Bundesländern würden zwei Drittel der Patienten nur auf dem Papier enthospitalisiert, so die DGSP. Psychiatrische Klinikabteilungen seien einfach umgewidmet oder nur umbenannt worden, viele Patienten seien in Großheime, oft auf dem flachen Lande, verlegt worden.
Ganz leicht ließen sich so psychisch Kranke aus Berlin in Brandenburg unterbringen. Die Belegzeiten können verkürzt werden, dann reicht ein Bett für zwei akute Fälle. Einige Krankenkassen sollen es den Krankenhäusern bereits so richtig schmackhaft machen. Sie versprechen höhere Pflegesätze, wenn Betten abgebaut werden.
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