: Überholen statt einholen
■ Der Parteitag der Bündnisgrünen in Suhl
Die Bündnisgrünen haben eine neue Hoffnung. Sie trägt den Namen Stuttgart. Knapp vierzig Prozent holte Rezzo Schlauch in der baden-württembergischen Hauptstadt. Das machte ihn zum gefeierten Helden des Parteitags von Suhl und befreite seine Partei aus einem taktischen Dilemma. Darin drohte sie sich in dem Maße zu verstricken, wie die Aussicht auf eine rot-grüne Regierungsbank schwand. Stuttgart signalisiert die – allerdings ferne – Möglichkeit, zur zweitstärksten politischen Kraft in Teilen des Landes zu werden. Das nächste große Testfeld wird Berlin, wo die SPD derzeit bei 23 Prozent in einer Großen Koalition dümpelt. Stuttgart bedeutet die Loslösung von einer Strategie, die sich in koalitionären Kombinationen erschöpft. Das bringt zwar nicht unmittelbar andere Resultate, befreit aber das Denken, das sich in den Fragen „Schröder oder Lafontaine“, „mit oder ohne PDS“ zu erschöpfen drohte.
Um mehr Stimmen zu bekommen, müssen die Bündnisgrünen attraktiver werden. Der Parteitag in Suhl hat gezeigt, daß die Basis mittlerweile einsieht, daß diese Attraktivität auch von Personen ausgeht. Er zeigte auch, daß es der Basis nicht mehr darum geht, in alten Streitfragen letzte Wahrheiten zu ermitteln. Die Debatte um die Post- Ifor-Einsätze wurde dort belassen, wo sie hingehört – in die Fraktion. Nicht nur die klassischen Themen, sondern auch die klassischen Lager der Partei verlieren an Einfluß und an Bedeutung.
Dritte oder gar zweite Kraft im Lande wird man allerdings nicht per Proklamation, sondern vor allem im Vollzug einer programmatischen Debatte, die der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht. Es rächt sich nun das jahrelange Versäumnis einer Grundsatzdiskussion bei den Bündnisgrünen. Deshalb fehlen ihnen Antworten und laborieren sie an einer Reihe von Zielkonflikten – sei es zwischen Ökologie und Wachstum, Sozialpolitik und finanzieller Nachhaltigkeit oder zwischen globaler Wirtschaft und nationalen Handlungsrahmen. Die Bündnisgrünen müssen darauf Antworten finden, wenn sie liberal oder sozialdemokratisch gesinnte Wähler für sich gewinnen wollen. Mit der Zielvorgabe Stuttgart wurde ein hoher Anspruch gesteckt. Der kann auch leicht in Großmäuligkeit abstürzen. Dieter Rulff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen