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Selbst hinschauen und hinhören

■ Hans-Dieter Grabe zeigt „Frau Siebert und ihre Schüler" in einem Heim für geistig Behinderte (So., 23.20 Uhr, ZDF)

Wenn das kein Thema fürs Fernsehen ist: Geistig Behinderten zwei Stunden lang beim Lesenlernen zuschauen. Was wie ein böser Scherz von RTL-Chef Helmut Thoma über, sagen wir, das ZDF- Programm klingt, ist die reine Wahrheit. Denn noch gibt es ihn, den Unterschied zwischen kommerziellem und öffentlich-rechtlichem Fernsehen, zumindest an diesem Sonntagabend: Da zeigen die Mainzer einen Dokumentarfilm von Hans-Dieter Grabe.

„Ich bin mir bewußt, daß ich außerordentlich weit gehe“, sagt der 59jährige ZDF-Redakteur. Sein Film sei zwar „sehr extrem, aber ähnlich fernsehgemäß wie eine Live-Sportübertragung“. Zwei Wochen lang hat Grabe, ausgestattet mit einer tragbaren Hi-8-Kamera, das Heim für geistig Behinderte in der Berliner Eichbuschallee besucht. Einige der erwachsenen Bewohner wollen sich dort in Lesen und Schreiben „weiterbilden“, wie es Grabe nennt. Doch bei dem Unterricht geht es weniger um Buchstaben, als darum, „daß ihre Sinne geschärft werden, daß sie an Selbstwertgefühl gewinnen“, so Lehrerin Siebert.

Es ist dann auch die ungeheure Motivation und Begeisterung über jedes Erfolgserlebnis in der kleinen Lerngruppe, die Grabe festzuhalten weiß. Mit minimalen Kamerabewegungen, wenigen Schnitten und ohne begleitenden Kommentar nimmt er sich ausführlich Zeit, die Menschen vorzustellen – 118 Minuten Fernsehen, das in bemerkenswerter Konsequenz auf Quoten-Denken und veränderte Sehgewohnheiten pfeift. Grabe treiben dabei gute Absichten an. Er habe die Behinderten und ihre Lehrerin „lieb gewonnen“, und die Ämter mögen doch bitte ein solches Lernprojekt weiter bezahlen. Trotzdem wahrt der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Dokumentarfilmer Distanz und gaukelt nicht vor, bei den Dreharbeiten unsichtbar gewesen zu sein.

Grabe hofft zwar nach wie vor beim Publikum auf „das Entdecken der Lust, selbst hinzuschauen und hinzuhören, wieder die Augen und die Ohren aufzumachen und sich nicht der Kamera und dem Mikro anzuvertrauen.“ Aber ansonsten ist er recht bescheiden geworden. Nichts gegen den späten Sendeplatz: „Ich bin froh, daß es überhaupt geht, einen solchen Film im Programm unterzubringen.“ Außerdem hoffe er darauf, daß Videorekorder mittlerweile weit verbreitet seien. Auch gegen das Kanal-Hüpfen hat Grabe nichts einzuwenden: Wenn jemand schon 20 Minuten lang nicht umschaltet, „wäre das wunderbar“.

Außerdem zeigt 3sat am 15.Dezember noch seinen 1990 gedrehten Dokumentarfilm „Jens und seine Eltern" (21.25 Uhr) und anschließend die Wiederbegegnung des Autors mit dem schwerstbehinderten Jungen sieben Jahre später („Jens von Sonntagnachmittag bis Freitagabend“). Thomas Gehringer

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