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Der Südharz liegt am Meer

„Angst Traum Schrei“: Armin Petras, der neue, junge Oberspielleiter am Theater Nordhausen, inszenierte gleich drei „Stücke zur Stunde X“ – unaufgeregt und optimistisch, mit Goldfischglas, Backsteinen, Sekt und Mikrophon  ■ Von Petra Kohse

Zum Theater Nordhausen fährt man nicht, zum Theater Nordhausen reist man an. Von Berlin aus schon am frühen Nachmittag. Umsteigen in Bitterfeld und Halle, fünf nach vier passiert man Teutschenthal, und ab Erdeborn wird's plötzlich dunkel.

Nordhausen im Südharz hat knapp 50.000 Einwohner, deren „Steuerkraft“ erst bei 35 Prozent „des Westniveaus“ liegt, wie die Oberbürgermeisterin Barbara Rinke in einer kommunalpolitischen Zeitschrift zitiert wird. Dennoch leistet sich Nordhausen nicht nur noch immer ein eigenes Theater (das auch das nahe gelegene Sondershausen versorgt), sondern auch eines mit Anspruch: Zu dieser Spielzeit hat der Intendant Christoph Nix den 32jährigen Berliner Regisseur Armin Petras als Oberspielleiter engagiert.

Am Freitag hatte in seiner Regie „Angst Traum Schrei“ Premiere, ein Dreiertitel, hinter dem sich ein Dreierpack Text verbirgt. „Angst“ steht für „Fahrerflucht“ von Alfred Andersch, ein Hörspiel aus dem Jahr 1958, „Traum“ für „Bloß weil dich irgendein Typ mit Sperma bedeckte und dich dann zurückwies oder Meine kleine Wolokolamsker Chaussee 6“ von Fritz Kater und „Schrei“ schließlich für Sarah Kanes „Zerbombt/Blasted“.

Zu dieser aufwendigen Titelei gesellen sich noch mehrere Untertitel. Denn nicht nur handelt es sich um eine „Theatererstaufführung“ (Andersch), eine Uraufführung (Kater) und eine „ostdeutsche Erstaufführung“ (Kane), sondern auch um „3 Stücke zur Stunde X“, die auch noch an den „51. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ erinnern sollen. Ein mindestens sechsstündiger Abend war zu befürchten. Er dauerte aber nur zweieinhalb.

Die Zuschauer sitzen in wenigen Reihen direkt auf der Bühne, zu zwei Seiten eines quadratischen, blauen Bodenbelags, auf dem formschönes Holzmobiliar, Backsteine, ein Tonband und ein Aquarium samt Goldfisch plaziert wurden. Anfangs kommt vom Tonband Rockmusik, und wenn die Aufführung mit HipHop endet, haben fünf Darsteller in ihren vielen Rollen das Mobiliar demoliert, aus den Backsteinen eine Straße und ein Grab gebaut, mit Gabeln um sich geworfen, sich aus- und teilweise wieder angezogen und mehrere Flaschen Sekt geleert. Das alles aber nur nebenbei.

Auch die drei Stücke, die alle von Krieg und Gewalt handeln, sind nicht die Hauptsache. Denn Petras erfindet zu den Texten szenisch keine Geschichten, sondern verhindert einen bildlichen Eindruck eher noch, indem er Text auf mehrere Personen verteilt oder dem Darsteller einer Figur plötzlich andere Darsteller zugesellt, die mit der Szene eigentlich nichts zu tun haben.

Worum es in dieser Inszenierung statt dessen geht, ist, daß Anne Keßler und Diana Neumann, Sebastian Goder, Andreas Haase und Andrej Kaminsky fünf Schauspieler spielen, die gemeinsam eine bestimmte Menge Text zu verwalten haben. In ihren jeweiligen Rollen sind sie isoliert, aber als Textverwalter nehmen sie ständig zueinander Kontakt auf, mit beruhigenden Gesten, erstaunten Blicken oder fragenden Betonungen.

Oder sie unterstützen sich, indem sie Regieanweisungen in ein Mikrophon sprechen, Text vor- oder nachflüstern, und immer mal wieder rührt einer im Goldfischglas oder hantiert mit Gabeln – Chiffren, die angenehm bedeutungslos sind. Manchmal geht auch das Licht aus, und alle schauen gemeinsam auf einen großen Bildschirm, auf dem das Fragment eines Bunkers zu sehen ist, an den freundliche Meereswellen heranschwappen. Natürlich sprechen die fünf auch tadellos ihre Rollen, etwa Anderschs Manager, der ein Mädchen überfahren hat, oder seinen Tankwart, der von dem fliehenden Fahrer wider Willen Schweigegeld annahm. Doch herrscht Einverständnis, daß der Text keine Entsprechung in einer persönlichen Erfahrung hat, zumindest keine, auf die es ankäme. Und so rollt Anne Keßler als Überfahrene wohl kaum wegen eines didaktischen Zeitlupeneffekts wieder und wieder vom Tisch, sondern scheint einfach so für sich zu genießen, wie reibungslos ihr die Bewegung gelingt.

Zartes, akkurates und durchaus unterhaltsames Metatheater, in das sich Fritz Katers Monologbrocken besonders gut fügen. Die Szenen spielen zwischen 1939 und 1995, beginnen mit biographischen Skizzen nach Art Heiner Müllers („ein neunjähriger steht da wie ein tiger/ die locken weitab fallen unsterblich über/ die zerschlagenen knie rennt blut ein/ vater im zuchthaus eine mutter im weißen bett im...“) und reichen bis zu Jelinekschen Wortmuränen, in denen viel von Asche, Fleisch, Fitnesswear und Katharina-Witt-Pornos die Rede ist.

Das Ensemble gliedert den mitunter recht komischen Text über die Auflösung aller Dinge einleuchtend, entwickelt aber nebenher eine differenzierte Kommunikation, die darin mündet, daß jubelnd eine Spielzeugrakete gezündet wird, die dann aber friedlich am Boden bleibt.

Hiernach noch Sarah Kanes „Zerbombt“ anzusetzen, fand Petras offenbar selbst fast überflüssig. In höchstens 20 Minuten wird die Geschichte daher slapstickhaft erledigt. So gespielt ist dieses Stück junge, englische Dramatik, in dem ein Pärchen (er Rassist, sie Vegetarierin) sich in einem Hotelzimmer erst fast selbst zerfleischt und sich dann plötzlich in einem Bürgerkrieg wiederfindet, jedoch nicht mehr als die Dialogfassung des Spruchbandes „Krieg beginnt zwischen zweien, und Bosnien ist überall!“. Zum Beleg werden Augen herausgerissen und Babies aufgefressen.

Aber auch hier: Diana Neumann, Sebastian Goder und Andrej Kaminsky als Soldat gehen keuchend und schwitzend ans Werk, während Anne Keßler ruhig die Regieanweisungen einspricht und Goder sanft drängt weiterzumachen, wenn er aussteigen will. Text ist Text, aber jenseits davon bleibt das Individuum souverän.

Eine Inszenierung, die Müller gelassen mit Castorf kontert und umgekehrt, die Tanzimprovisationen mühelos integriert und trotzdem eine eigene Position hat. Denn das „X“ in den „Stücken zur Stunde X“ wird nicht als dräuende Unbekannte beschworen, sondern unbekümmert als Variable einer doppelten Haltung vorgeführt: postideologische Funktionalität mit menschlichem Antlitz – eine Utopie.

„Angst Traum Schrei“. Von Alfred Andersch/Fritz Kater/Sarah Kane. Regie: Armin Petras. Bühne: Armin Petras und Birgit Schöne. Theater Nordhausen. Nächste Vorstellung am 19. Dezember

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